Mit den Augen Jesu sehen lernen

Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (B)

Ein blinder Bettler am Straßenrand: das ist die Hauptperson des heutigen Evangeliums. (Es ist übrigens die letzte Wundererzählung im Markusevangelium.)
Bartimäus, der Sohn des Timäus. – Das Evangelium hält seinen Namen fest.
Seine große Stunde schlägt, als Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem – auf dem Weg zur Passion – durch Jericho kommt.
Als Bartimäus laut um Hilfe schreit, wird die Menge ärgerlich. Wahrscheinlich war er sowieso ein Ärgernis, diese armselige Kreatur, an der man jeden Tag in Jericho vorbei mußte.
Jesus freilich sieht das anders; – er sieht den Bettler ganz anders.
Zunächst einmal hört er ihn, er hört in all dem Trubel der Schaulustigen seinen Hilfeschrei. Und dann ruft er ihn und stellt ihn in die Mitte, und er sieht in ihm etwas, was sonst niemand sieht : einen großen Glauben. Nicht nur Neugier und Sensationslust wie bei den Leuten, sondern Glauben.
Einen Glauben, der Wunder bewirkt; einen Glauben, der in die Nachfolge Jesu mündet. Denn das ist ja das Ende der Geschichte: Kaum ist Bartimäus geheilt, verläßt er Jericho und folgt Jesus nach. Der blinde Bettler – in den Augen Jesu ist er den anderen Leuten weit voraus. „Selig die Armen – ihnen gehört das Himmelreich!“ (Mt 5,3) – das zeigt sich in dieser Geschichte.

Was können wir von diesem Evangelium lernen? Unter anderem dies: die Armen, die angeblich Nutzlosen und Lästigen mit den Augen Jesu sehen.
Erfolg, Karriere, Leistung, Gesundheit, Jugend, gutes Aussehen – das steht ganz oben. Das beten alle an. Die Kehrseite der Medaille: Das sind die, die nicht ins Bild passen.
Die Hilfsbedürftigen, die Schwachen, die Behinderten, die Hässlichen, die Leidenden.
Mit denen will man nichts zu tun haben. Der Sozialstaat soll sich um sie kümmern.
Oder besser wäre es, sie würden ganz von der Bildfläche verschwinden und den anderen nicht mehr zur Last fallen.
Fortpflanzungsmedizin und Genetik träumen davon, alles Kranke und Behinderte auszumerzen. Damit niemand mehr das schöne Bild der Spaßgesellschaft stört.
Wie erbarmungslos, wie grausam und eiskalt ist dieses Szenarium – unter der glatten Oberfläche.

Dagegen steht das Evangelium. Das Evangelium des Erbarmens. Gott sei Dank haben wir es. Aber lernen wir auch davon! Lernen wir mit den Augen Jesu die Armen und Leidenden sehen. – Sie nicht übersehen und ihren Hilferuf überhören. In ihnen mehr sehen als der äußere Augenschein zeigt. – An das Wort denken: „Was ihr einem von diesen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). – Vielleicht sind wir bei ihnen Christus näher als sonst wo in der Welt. – Und vielleicht machen wir gerade bei Menschen wie dem blinden Bartimäus die Erfahrung, dass wir nicht nur Gebende sind, sondern Beschenkte, – beschenkt durch die Kraft des Glaubens, die hier oft größer ist als bei der großen Menge.

Am 19. Oktober 2003 wurde Mutter Teresa in Rom seliggesprochen, und niemand bezweifelt, dass dies zu Recht geschah. Denn sie ist die Heilige unserer Tage, der Inbegriff der Nächstenliebe und des Erbarmens, weshalb sie 1979 auch den Friedensnobelpreis erhielt.
Was ist das Geheimnis von Mutter Teresa? – Den Menschen, besonders aber jeden armen, ausgesetzten, verzweifelten Menschen mit den Augen der Liebe anschauen.
Die Augen der Liebe, das sind die Augen der Mutter, das sind die Augen des barmherzigen Jesus.
Wer etwas von Christus verstehen will, muss sich in seinen Blick der Liebe einüben.
„Jede Tat der Liebe läßt uns Christus besser verstehen“ (Hl. Theresia von Lisieux).
Nächstenliebe ist somit viel mehr als bloß Sozialarbeit. Sie ist Dienst für Christus, Weiterschenken der Liebe dessen, der uns zuerst geliebt hat (1 Joh 4,19).

Ein amerikanischer Journalist besuchte Mutter Teresa, um eine Reportage über sie zu schreiben. Eine Woche lang begleitete er sie auf ihren Wegen durch die Armenviertel Kalkuttas. Er sah, wie sie Sterbende von der Straße auflas und liebevoll pflegte, die schon von Ratten und Ungeziefer angefressen waren. Am Ende der Woche verabschiedete sich der Journalist mit den Worten: „Ehrwürdige Mutter, ich verneige mich in Ehrfurcht vor ihnen. – Aber ehrlichgesagt: Was sie da tun, das könnte ich nicht für tausend Dollar in der Stunde machen.“ – Worauf sie lächelnd antwortete: „Ich auch nicht!“

Amen.