Was den Priester ausmacht
(Auszug aus dem Buch: Henri J.M. Nouwen, Schöpferische Seelsorge, Freiburg 1989, 159-161)
Die Priesterweihe bedeutet die Anerkenntnis und Bestätigung der Tatsache, dass ein Mensch jenseits der Mauern der Angst gegangen ist; dass er in intensivem Kontakt mit Gott steht und von der brennenden Sehnsucht getrieben wird, anderen den Weg zu Gott zu zeigen. Die Priesterweihe macht aus niemandem etwas Besonderes, sondern ist die feierliche Anerkenntnis der Tatsache, dass dieser Mensch imstande war, Gott gegenüber gehorsam zu sein, seine Stimme zu hören und seinem Ruf zu folgen, und dass er anderen den Weg zu dieser gleichen Erfahrung aufzeigen kann.
Daher ist der Priester ein Mann des Gebets. Nur ein Mann des Gebets kann andere Menschen zur Feier des Lebens führen, denn alle, die mit ihm in Kontakt kommen, spüren, dass er seine Stärke aus einer Quelle bezieht, die sie nicht ohne weiteres orten können, aber von der sie wissen, dass sie stark und tief ist.
Seine innere Freiheit schenkt ihm eine gewisse Unabhängigkeit, hat aber nichts Autoritäres oder Überhebliches an sich. Sie befähigt ihn, über die unmittelbaren Bedürfnisse und dringendsten Wünsche der Menschen in seiner Umgebung hinauszuschauen. Er wird tief bewegt von den Geschehnissen in seiner Umgebung, aber er lässt sich nicht leicht in Aufregung oder Nervosität versetzten.
Aus allem, was er sagt oder tut, spürt man heraus, dass er
eine Grundperspektive hat, die sein Leben leitet. Dieser Grundorientierung gegenüber ist er gehorsam.
Sie hilft ihm, ganz scharf Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Er ist nicht unempfindsam für das, was die Menschen erregt, aber er hat andere Maßstäbe, nach denen er ihre Bedürfnisse einordnet, weil er sie im Rahmen seiner Grundorientierung sieht.
Er ist glücklich und zufrieden, wenn Menschen ihm zuhören, aber er möchte keine Cliquen bilden. Er hängt sich an niemanden ausschließlich.
Was er sagt, klingt überzeugend und einleuchtend, aber er zwingt seine Meinung niemand anderem auf und ist nicht verärgert, wenn andere seine Ideen nicht akzeptieren oder seinen Willen nicht erfüllen…
Aber er ist auch gegenüber seinem Ideal innerlich frei.
Er weiß, dass er nicht die Verwirklichung seiner Wunschträume erleben wird, und er betrachtet sich selbst nur als Wegweiser dorthin.
Er besitzt gegenüber seinem eigenen Leben eine eindrucksvolle innere Freiheit. Aus seinen Taten wird deutlich, dass für ihn sein eigenes Dasein von zweitrangiger Bedeutung ist.
Er lebt nicht, um sich selber am Leben zu erhalten, sondern um eine neue Welt mit aufzubauen, von der er bereits die ersten Bilder gesehen hat und die ihn derart anzieht, dass die Grenzlinien zwischen seinem Leben und seinem Sterben für ihn unerheblich werden.