Kein frommes Märchen!

Predigt zum Zweiten Advent C (Lk 3,1-6)

Was am heutigen Evangelium auffällt, das sind die genauen Zeit- und Personenangaben. Es ist dem Evangelisten Lukas sehr wichtig, festzuhalten, wann und wo sich die Geschichte Jesu Christi – und damit die Heilsgeschichte der Menschheit abgespielt hat.
Es ist eine fest umrissene Stunde der Weltgeschichte und ein genau bestimmbarer Ort:

„Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa“ (Lk 3,1).
Kaiser Tiberius war der Nachfolger des Kaisers Augustus (unter dessen Regierung Jesus bekanntlich geboren wurde).
Tiberius kam im Jahr 14 unserer Zeitrechnung an die Macht; das fünfzehnte Jahr seiner Regierung war demnach das Jahr 29.  – In diesem Jahr also trat Johannes der Täufer als Bußprediger in der Gegend am Jordan auf. – Wenig später – nämlich nach der Taufe durch Johannes – auch Jesus , und daher wissen wir, dass Christus bei seinem öffentlichen Auftreten etwa dreissig Jahre alt war.
Kaiser Tiberius  also regierte damals so gut wie die gesamte besiedelte Welt. Die römischen Historiker schildern ihn im Gegensatz zum strahlenden Friedenskaiser Augustus als unangenehmen Zeitgenossen, als mißtrauischen, grausamen und genußsüchtigen Herrscher.
Israel war seit dem Jahre 6 v. Christus eine Provinz des Römischen Weltreiches. Hier herrschte der Statthalter Pontius Pilatus, der Christus später hinrichten ließ.

Auch über Pontius Pilatus gibt es historische Zeugnisse. Der jüdische Geschichtsschreiber  Flavius Josephus kann nur Schlimmes über die Amtsausübung des Pilatus berichten: Bestechlichkeit, Gewalttätigkeit, Raub, Mißhandlungen, fortwährende Hinrichtungen von Juden ohne Urteilsspruch und unerträgliche Grausamkeit.
Dann erwähnt Lukas den Namen „Herodes, Tetrarch von Galiläa“. Dieser Herodes war ein von der römischen Besatzungsmacht eingesetzter Kleinfürst. Er war es, der später Johannes den Täufer einkerkern und enthaupten ließ. Grund: Johannes hatte es öffentlich angeprangert, dass Herodes seinem Bruder die Frau weggenommen hatte und in einer unerlaubten Ehe lebte.
Um die Zeitsituation noch genauer zu beschreiben, nennt Lukas neben den weltlichen auch die geistlichen Obrigkeiten: der regierende Hohepriester Joseph Kaiphas, der laut jüdischen Quellen von 18 – 36 nach Christus seines Amtes waltete, und dessen Schwiegervater, der abgesetzte Hohepriester Annas.  Auch diese beiden Namen werden uns anläßlich der Gefangenennahme und Kreuzigung Jesu wiederbegegnen. Das Evangelium sagt, dass die Hohenpriester Christus „aus Neid“ haßten, weil er beim Volk beliebt war (Mk 15,10). Sie selber waren nämlich äußerst unbeliebt, weil sie durch schlaue Diplomatie Günstlinge der Römer waren, die sich nur selbst bereicherten.

Das also ist die geschichtliche Situation  (-eine Situation, die nach Erlösung ruft!), in welcher sich die zentrale Stunde der Menschheitsgeschichte ereignet: das Erscheinen des Sohnes Gottes, des Retters der Welt.
Warum die genauen Zeit- und Ortsangaben?  Um festzuhalten, dass das, was im Evangelium berichtet ist, wirkliche, reale, konkrete Geschichte ist.
Liebe Gemeinde, der christliche Glaube ist kein frommes Märchen, er ist keine Sage, kein Mythos und kein schöner Traum.
Nein, er beruht auf Tatsachen, auf Fakten, auf wirklichem Geschehen in dieser Welt, in unserer Geschichte.
Das ist sogar der Dreh- und Angelpunkt des Christentums, das, was wir an Weihnachten feiern: Gott hat Fleisch angenommen  in Jesus Christus. – Gott ist zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort Mensch geworden und  hat so unmittelbar in das Weltgeschehen eingegriffen. Er hat das Rad der Weltgeschichte herumgerissen, er hat dem Geschichtsverlauf,  der ohne ihn nichts anderes als eine trostlose Tragödie wäre, die Wende zum Guten, zum Heil gegeben.
Jesus Christus ist die Mitte und die Achse der Weltgeschichte.
Das bezeugt sogar die allgemeine Zeitrechnung, die ja auf Christi Geburt gebaut ist. Wir zählen die Jahre der Menschheit vor und nach der Geburt des Herrn.

Und so stehen wir jetzt im Advent des Jahres 2006 nach Christi Geburt. Und wieder hören wir den Ruf des Täufers, der durch die Jahrhunderte schallt: „Bereitet dem Herrn den Weg, ebnet ihm die Straßen!“ (Lk 3,4)

Jesus Christus ist wirklich der Herr, der Erlöser der Welt, unsere einzige Hoffnung.
Darum haben wir allen Grund, die Mahnung des Johannes ernst zu nehmen und uns auf Jesus neu auszurichten. Und zwar nicht irgendwann einmal im späteren Leben, sondern jetzt, wenn wir seine Stimme hören und hier: in diesem Leben, an diesem Ort und in der Situation, in die wir von Gott gestellt sind. Und nicht nur in Gedanken und in der Theorie und in frommen Wünschen, sondern in konkreten Schritten eines lebendigen Glaubens und einer tätigen Nächstenliebe. Denn auch in uns will das Wort Fleisch werden.