Hirten erst kundgemacht

Predigt in der Heiligen Nacht

Wir feiern Weihnachten in Gemeinschaft mit Millionen Christen weltweit, die wie wir diese Heilige Nacht begehen; – in Gemeinschaft aber auch mit all den vielen Generationen von Christen vor uns, die an Jesus, den Sohn Gottes, geglaubt haben,  bis hin zu den Ersten, die zur Krippe gerufen wurden vor 2000 Jahren:  den Hirten auf den Feldern Bethlehems.
Diese Hirten, die in keiner Weihnachtskrippe fehlen dürfen, wollen wir heute einmal genauer anschauen. Denn die Frage ist doch: Warum wurden gerade diese Hirten – und nur sie – in der Heiligen Nacht zur Krippe gerufen?
Es gab viele Menschen damals in Bethlehem, aber nur den Hirten verkündeten die Engel die frohe Botschaft „Euch ist heute der Retter geboren; es ist Christus, der Herr!“ (Luk 2,11)
Was hat die Hirten dazu prädestiniert, dass sie als einzige das Wunder der Heiligen Nacht schauen durften?

Die Hirten waren arme Leute. Das sehen wir daran, dass sie auch im Winter, in der Nacht auf den 25. Dezember auf freiem Feld mit ihren Herden lagern mussten. Sie hatten offensichtlich keine Ställe für die Tiere und keine Unterkunft für sich selbst. Diese armen Hirten rufen die Engel zum neugeborenen Sohn Gottes, der selbst wie ein Obdachlosenkind in einem Stall zur Welt kommt.
Wenn Jesus später verkünden wird: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3), dann wurde diese Verheißung schon bei seiner Geburt wahr: an den Hirten.
Die Armen ruft der Herr als erste zu sich. Sie sind sozusagen seine Ehrengäste. Sie hat er am liebsten. Und wer gehört heute zu diesen Armen, die Gott bevorzugt?
Nicht nur die materiell Armen. Der Reiche im Rollstuhl ist vielleicht ärmer dran als der Arme mit gesunden Gliedern…
Eine, die über Armut besser Bescheid wusste als irgendjemand, die sich für die Ärmsten der Armen aufgeopfert hat, die Selige Mutter Teresa von Kalkutta, definiert Armut so: Armut ist nicht nur der Mangel an Geld, es ist der Mangel an Wert, an Anerkennung, an Liebe. – Arm sein heißt: unerwünscht, ungeliebt, überflüssig sein. Und solche Arme, sagt sie, hat sie gerade in den reichen Wohlstandsländern zu Hauf getroffen. – Die sich unerwünscht, ungeliebt und nutzlos fühlen, nur noch eine Last für die anderen, zu nichts mehr wert, die ewigen Verlierer, auf dem letzten Platz.
Alle, die sich so fühlen, dürfen heute Nacht wissen: Bei Jesus ist es anders. Bei ihm bin ich auf dem ersten Platz. Von ihm bin ich gewollt und geliebt – und für ihn bin ich ganz wichtig.

Als Mutter Teresa 1979 den Friedensnobelpreis bekam, da wusste sie schon längst, dass Kalkutta überall ist, und sie rief dem erlauchten Publikum in Oslo zu: „Jeder von Euch kann wie ich ein Missionar der Nächstenliebe sein, wenn er bei sich zu Hause anfängt, jeden Einzelnen zu lieben und sich um ihn zu kümmern. – Vielleicht gibt es ja in unserer eigenen Familie jemanden, der sich einsam fühlt, der krank ist, der Sorgen hat …Sind wir dann zur Stelle, um ihn anzunehmen?“
Auf die Armen also lenkt die Heilige Nacht unseren Blick, die als erste zur Krippe kamen und den Sohn Gottes fanden, der selbst die Armut für seine Geburt gewählt hatte.
„Er, der reich war“, sagt der Apostel Paulus, „wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen“ (2 Kor 8,9).

Das Geheimnis der Armut, das ist das eine, was an der Krippe von Bethlehem aufleuchtet. Und das andere: das Geheimnis der Erlösung.
Die Hirten galten damals in Israel – besonders bei den Frommen – als Sünder, als unrein. Sie hatten keinen guten Ruf, weil es tatsächlich manche dunkle Gestalt unter ihnen gab, manch einen, der etwas zu verbergen hatte, der untertauchen musste und nur noch bei den Hirten draußen vor den Toren der Stadt Unterschlupf fand.
Und gerade diese dunklen Gestalten – und nicht die ehrbaren Bürger – ruft der Engel.
Warum?
Weil Jesus für die Sünder gekommen ist – und nicht für die Gerechten. Später wird man ihm vorwerfen, dass er ein Freund der Zöllner und Sünder ist. Und er wird antworten. „Ja, so ist es! Denn nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten!“ (Mk 2,17)
Liebe Gemeinde, wer ganz in Ordnung ist, wer immer alles richtig gemacht hat, wer rundum mit sich zufrieden ist, wer meint, auch der liebe Gott kann mit ihm zufrieden sein, wer die Schuld nur bei den anderen sieht, der hat ein Problem: Er marschiert geradewegs an der Krippe vorbei!

Die Geburtskirche in Bethlehem ist die älteste erhaltene Kirche der Welt. Das Merkwürdigste an dieser Kirche, einem großen, verzweigten Bau, ist der Eingang.
So gut wie jeder, der durch diesen  Eingang will, muss sich bücken, weil die schmale Öffnung nicht höher als 1,60 m ist. So lernt der Pilger schon beim Betreten der Geburtskirche eine elementare Wahrheit: Wer zum Kind in der Krippe will, muss zuerst einmal herunterkommen vom hohen Ross, vom hohen Ross der Selbstgerechtigkeit.
Gott, der in Jesus so klein geworden ist, so babyklein, duldet keine Großtuerei, kein Angebertum und keine Selbstgerechtigkeit.
Jesus lehrt seine Jünger später im Vaterunser beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.
Erst wenn der Mensch erkannt hat, dass er Schuld hat, dass er vielen vieles schuldig geblieben ist – auch Gott – wird er aufnahmefähig für die vergebende Liebe Gottes und kann seinerseits vielen vieles vergeben.
Zu Weihnachtskrippen – wie in unserer Kirche hier – gehören Schafe. Manchmal denke ich: Eigentlich müsste unter all den vielen weißen Unschuldslämmern wenigstens ein schwarzes Schaf sein, und das müsste seinen Platz ganz vorne  beim Jesuskind haben…

Die armen und erlösungsbedürftigen Hirten weisen uns den Weg zur Krippe. Folgen wir ihnen nach, nicht nur heute Nacht. Heute wird uns nur einmal wieder die Richtung gezeigt, die wir so oft verlieren. Gehen müssen wir diesen Weg ein Leben lang, manchmal auch durch Dunkelheit und Nacht, manchmal einsam und allein. Das Ziel ist die unscheinbare und armselige Krippe, die den kostbarsten Schatz des Universums birgt: die Liebe Gottes in Jesus Christus.
Wenn wir diesen Schatz finden, dann ist unser Leben trotz aller Mängel und Defizite, ja gerade durch sie, voll und ganz geglückt.
Und dann können wir Gott für alles danken und Ihm die Ehre geben.