Pfarrer Dr. Johannes Holdt
Vor zwei Jahren starb Heinrich Spaemann im hohen Alter von 97 Jahren in Überlingen am Bodensee. Spaemann hatte sich durch zahlreiche Publikationen einen Namen als einer der bedeutendsten geistlichen Schriftsteller unserer Tage gemacht. Er schöpfte aus einer reichen seelsorgerlichen Erfahrung ebenso wie aus einer einzigartigen Vertrautheit mit der Heiligen Schrift. Die hier vorgestellten und von mir kommentierten geistlichen Maximen veröffentlichte Spaemann unter dem Titel „Lebensregeln für jeden Christen aus der Sicht des Alters“ in der Zeitschrift „Mitten in der Welt. – Hefte zum christlichen Leben, Nr.107“.
Sie enthalten in komprimierter Form die Prinzipien seiner Spiritualität. Die Achtzahl der Regeln ist wohl nicht zufällig, sondern ein Anklang an die acht Seligpreisungen der Bergpredigt.
1. Erstwichtiges nicht länger an die zweite Stelle setzen. Erstwichtig ist unsere Verbundenheit mit Gott. Sie soll durch den Tod hindurch die bleibende Wirklichkeit für mich werden. Das hängt mit davon ab, dass ich Gott hier und jetzt schon den ersten Platz in meinem Denken, Reden und Verhalten einräume. Darum z.B. den Tag mit Gebet beginnen, nicht mit der Zeitung oder anderem. Und mit Gebet durchdringen! Ziel: Nichts ohne Verbundenheit mit Gott.
Gott den ersten Platz einräumen, das entspricht dem, was Jesus das Hauptgebot, das erste und wichtigste Gebot nennt: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken“(Mt 22,37).
Wie die Erde ihre Umlaufbahn um die Sonne hat und um die Sonne kreist, so soll der Mensch um Gott kreisen und in Gott sein Zentrum haben. Ob das so ist, ob Gott, unser Schöpfer und Vater, wirklich den ersten Platz in unserem Leben hat, zeigt sich auch daran, wie wir den Tag beginnen. – Gehört der erste Gedanke, das erste Wort des Tages Gott? Oder fällt uns Gott erst irgendwann im Laufe des Tages ein oder gar nicht?
Den Tag mit Gebet beginnen und mit Gebet durchdringen. Beten heißt: An Gott denken, mit Gott sprechen, mit Gott verbunden sein. Ein Meister des Gebets, der Heilige Benedikt gibt den Rat: „Lieber öfter kurz, als selten lang beten“. Immer wieder im Verlauf des Tages sich an Gott wenden – mit einer Bitte, einem Dank, einem Wort der Reue – so bleibt man im lebendigen Gespräch mit Gott und verfällt nicht der so verbreiteten Gottvergessenheit.
2. Den Mut haben, Gott immer und überall zu danken; vertrauen, dass die Vaterliebe Gottes alles verantwortet, was mir begegnet, das Schöne und Wohltuende, aber auch Leid und Ungemach.
In jeder Messfeier betet der Priester im Eucharistischen Hochgebet: „In Wahrheit ist es würdig und recht, dir Herr, Heiliger Vater, allmächtiger ewiger Gott, immer und überall zu danken“. – Gott immer und überall danken: ein großes Wort. Können wir das, beim Dank an Gott bleiben, bei der Liebe zu Gott bleiben, auch wenn uns gar nicht froh zumut ist, in Leid und Ungemach?
Gottes Vaterliebe und seine Vorsehung verantworten alles, was mir begegnet, sagt Spaemann, darum soll ich alles vertrauensvoll von Gott annehmen. Hier ist an das großartige Wort des Apostels Paulus im Römerbrief (8,28) zu denken: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alle Dinge zum Guten führt“. – Gott weiß, welchen Sinn das Schwere in unserem Leben hat, und er mutet es uns nur zu, weil er es in Gutes zu verwandeln weiß. Und manchmal brauchen wir auch die Schule des Leidens, um zu reifen, um weiterzukommen, um durchzudringen zum wahren Leben.
„Dankt Gott für alles; denn das will Gott von euch, die ihr Christus Jesus gehört“ (1 Thess 5,18). – Gott für alles danken ist letzte Konsequenz unseres Christseins, unseres felsenfesten Vertrauens in Gottes Liebe.
3. Sorge tragen, dass das vordergründige Vielerlei im Leben nicht überhandnimmt, sondern abnimmt. Das materielle wie das geistige Konsumangebot unserer Zeit ist übergroß. Auswählen, sich beschränken, besonders wenn es ums Fernsehen, um Radio, Zeitschriften und Zeitungen geht. Gefahr ist, dass man die Mitte verliert, statt zu ihr hinzufinden. Vieles lassen, das führt zur Gelassenheit.
Unsere Welt gleicht einem großen Supermarkt, alles ist im Angebot, nicht nur Materielles, auch Geistiges. Bunt und marktschreierisch ist die Werbung. Viele lassen sich zum wahllosen Zugreifen verführen. Im Kolosserbrief (3,2) heißt es: „Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische!“ – Mit anderen Worten: Findet Geschmack an Gott und seiner Sache und kostet nicht alles aus, was die Supermärkte dieser Welt zu bieten haben.
4. Bescheiden und anspruchslos sein. „Eng ist die Tür, die ins Leben führt“. Nur Leute ohne Gepäck, Kinder und Arme kommen durch diese Tür. Darum nicht reicher, sondern lieber ärmer werden wollen, gerne herschenken, was man selber nicht mehr nötig braucht. Sich auch gern beschenken lassen, jedoch nichts bloß für sich behalten wollen. Was man nicht loslassen will, damit kommt man nicht durch. Das hindert den Eingang durch die enge Tür. Und die Linke nicht wissen lassen, was die Rechte tut.
„Nicht reicher, sondern lieber ärmer werden wollen“. – Das ist paradox. Das widerspricht allem, was sonst gang und gäbe ist. Mehr und immer mehr haben wollen: das ist doch die Devise der Wohlstandsgesellschaft. Das Evangelium setzt allerdings andere Wertmaßstäbe: „Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. – Aber weh euch, die ihr reich seid, denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten“ (Lk 6,20.24). „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Mk 10,23.25). Der Wohlhabende ist vollgepackt mit seinen Besitztümern, ganz durch sie in Anspruch genommen, auf sie fixiert. Er sieht Gott nicht mehr. Er hat – scheinbar – schon alles, was er braucht. Darum ist Reichtum, großer Besitz eine Gefahr für den Menschen, für sein Seelenheil. Und darum gilt: „Lieber ärmer werden wollen“ – das heißt: teilen, hergeben, andere teilhaben lassen lassen am eigenen Besitz.
Vom Geheimnis der engen Pforte spricht Jesus in der Bergpredigt: „Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit, und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng, und der Weg dahin ist schmal, und nur wenige finden ihn“ (Mt 7, 13-14).
5. Sich nicht ängstlich sorgen und sichern. Gott die Zukunft überlassen. An den Mann denken, der reiche Erträge gehabt hat und nur auf eine sichere Kapitalanlage für sich und seine Sippe bedacht ist, und dem Gott in seine Überlegungen hinein sagen muss: „Du Narr, in dieser Nacht noch wird man deine Seele von dir fordern!„(Lk 12, 16-21). Sich mit dem „ungerechten Mammon“ Freunde verschaffen, die einen in die ewigen Wohnungen aufnehmen (Lk 16,9).
Das Gleichnis vom reichen Kornbauern, das Heinrich Spaemann zitiert, ist wert, immer wieder gelesen und bedacht zu werden. Jesus erzählt dieses Gleichnis aus Anlass eines Erbstreits: „Einer bat Jesus: Meister, sag meinem Bruder, er soll das Erbe mit mir teilen! Er erwiderte ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter bei euch gemacht? Dann sagte er zu den Leuten: Gebt acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier! Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt“ (Lk 12, 13-15). – Erbstreitigkeiten sind ein leidiges, aber immer aktuelles Thema. Als Christen ist uns ein ewiges Erbe versprochen; denn wir sind „Miterben Christi“ (Röm 8,17). Um dieses ewige Erbe muss es uns gehen, und das dürfen wir unter keinen Umständen wegen eines vergänglichen Erbes gefährden. – Im übrigen: „Gott die Zukunft überlassen“. – >Heilige Sorglosigkeit< ist ein Grundmotiv des Evangeliums. Die Art, wie wir uns Sorgen machen, ist darum ein untrügliches Indiz dafür, wie es um unser Gottvertrauen in Wahrheit bestellt ist. Pater Josef Kentenich, der Gründer der Schönstattfamilie, gibt dazu den Rat: „Unsere größte Sorge sollte sein, jede Sekunde endlos sorglos zu sein; sorglos nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil wir auf Gott vertrauen“.
6. Sich in der Nähe des Gekreuzigten halten. Das Kreuzzeichen ist Nachfolgezeichen! Sich nicht verbittern oder empören lassen, wenn man weniger beachtet, übergangen oder mit zunehmendem Alter auch vergessen wird. Sich nicht ärgern, wenn bestimmte Wünsche oder Vorstellungen nicht erfüllt oder von andern durchkreuzt werden. Sich sagen: das ist Schulung und Prüfung im Christsein. Du hast sie nötig. Durch die Teilnahme an Jesu Leiden erfährt man erst die Kraft seiner Auferstehung.
Zur Nachfolge Jesu gehört die Kreuzesnachfolge: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ (Lk 9,23) Das Kreuz des eigenen Lebens annehmen, jeden Tag aufs neue, ohne Verbitterung, ohne Hadern, in Glaube, Hoffnung und Liebe: das ist der Ernstfall des Glaubens. Paulus spricht von der „Torheit des Kreuzes“, die die Welt nicht versteht (1 Kor 1,18). In der Welt gilt: Selbstverwirklichung um jeden Preis. Christus, der Gekreuzigte aber sagt uns: Selbstverwirklichung gibt es nur in der Selbsthingabe. – „Wer das Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen“ (Mt 10,39).
7. Wachen über ein zartes Gewissen. Sich selbst keine Unaufrichtigkeiten oder Lieblosigkeiten durchgehen lassen. Sie aufrichtig zu bereuen suchen. Gott schenkt immer wieder den Neubeginn in Lauterkeit.
Umkehr ist ein zentrales Element des Christseins. Es gibt kein Christentum ohne Umkehr. „Erfüllt ist die Zeit und nahe ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). – Mit diesem Umkehrruf beginnt Jesus sein öffentliches Wirken. Umkehrwille, Reue ist heute Mangelware. „Die Sünde unserer Zeit ist das fehlende Sündenbewußtsein“ (Papst Pius XII.). Man kann das auch das Pharisäersyndrom nennen: >Ich selbst bin in Ordnung. – Die andern sind an allem schuld!< Jesus lehrt uns aber gerade die umgekehrte Perspektive: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen“ (Mt 7, 3-5).
„Wachen über ein zartes Gewissen“. – Das Gewissen, das Organ des Guten und Bösen in uns, muss entwickelt werden, sonst verkümmert es. Das geht schnell und unmerklich. Und es beginnt damit, dass wir uns mit der Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit abfinden. Dann kann man Sätze hören wie: „Das machen doch alle so“ oder „Das ist heute halt so“. Das ist bequem, aber die Bankrotterklärung des Christen.
8. Maria lieben und ehren. Jesus gab sie uns zur Mutter.
Jesus machte seine Mutter zu unser aller Mutter in der Stunde seines Todes. Es ist die letzte Verfügung, die er zu Lebzeiten trifft: „Als Jesus seine Mutter sah und bei ihm den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh 19,26-27). Der Lieblingsjünger steht hier für die ganze Jüngerschaft Jesu, für die Kirche. Unter dem Kreuz wurde Maria zur Mutter der Kirche. Marienverehrung ist darum nicht eine Privatangelegenheit oder eine Sonderfrömmigkeit von einigen. Marienverehrung ist integraler Bestandteil des Glaubens. Nicht umsonst steht Maria im Glaubensbekenntnis. Eine gesunde marianische Spiritualität verleiht dem Glauben Wärme und Glanz und verhindert, daß die Christen allzu gedrückt und verbiestert ihren Weg gehen. Theodor Fontane notiert einmal: „Wo die Madonna weilt, da weilt die Schönheit und die Freude“.