Die Wahrheit verbreiten – ein Werk der Barmherzigkeit

Gedanken zu zwei Seligpreisungen der Bergpredigt
Pfarrer Dr. Johannes Holdt

Die fünfte Seligpreisung der Bergpredigt hat die Barmherzigkeit zum Inhalt: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5,5).
Bei wem werden die Barmherzigen Erbarmen finden? – Bei Gott. Denn Gott ist „der Vater des Erbarmens“(2 Kor 1,3). Schon im Alten Testament ist Barmherzigkeit ein hervorstechendes Merkmal Gottes: „Der Herr ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex 34, 6 und öfter).

Weil Gott so ist, müssen wir – seine Kinder – ihn darin nachahmen: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“! (Lk 6,36) Also: Seid voll liebender Zuwendung für alle, die eure Hilfe brauchen. – Kehrt ihnen nicht den Rücken zu. Es ist so leicht , Not zu übersehen , wie es der Priester und der Levit im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter tun.
Nichts braucht unsere unterkühlte Zeit so sehr wie Barmherzigkeit; nichts braucht sie so sehr, wie Menschen, die die Werke der Barmherzigkeit tun.

In der theologischen Tradition unterscheidet man die leiblichen und die geistlichen Werke der Barmherzigkeit.
Die leiblichen Werke ergeben sich aus der Rede Jesu über das Weltgericht im fünfundzwanzigsten Kapitel des Matthäusevangeliums. Dort sagt es der Herr klipp und klar, worauf es letztlich in unserem Leben ankommt und wonach wir am Ende beurteilt werden: ob wir für unsere hilfsbedürftigen Brüder und Schwestern da waren oder nicht:

„Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25, 31-46).

Ergänzt durch das Werk „Tote begraben“ (das gerade heute, wo die christliche Begräbniskultur zu zerfallen droht, von besonderer Aktualität ist) ergibt sich die Siebenzahl der Werke der Barmherzigkeit. Ihnen stellt die Kirche die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit an die Seite:

1. Die Sünder zurechtweisen. – Ein schweres Werk, vor dem wir uns gern drücken. – Dabei braucht jeder von uns diesen Dienst der „correctio fraterna“, der brüderlichen Zurechtweisung. Viel Unglück im Menschenleben ließe sich vermeiden, wenn einer auf den anderen mehr achten , auf einen falschen Weg, eine falsche Haltung frühzeitig aufmerksam machen würde. – Es ist eine falsch verstandene Toleranz, die alles Schlechte schweigend hinnimmt.

2. Die Unwissenden lehren. – Thomas von Aquin sagt: „Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, ihn vom Irrtum zur Wahrheit zu führen“ (In Div. nom. 13,4). Weil der Mensch ein geistiges Wesen ist, dürstet er von Natur aus nach Erkenntnis und Wahrheit. – Dazu gehört auch die Glaubenswahrheit. Und gerade die ist heute Mangelware. Die Unwissenheit im Glauben ist grandios. Viele Getaufte sind religiöse Analphabeten – und darum eine leichte Beute für falsche Propheten, Gurus, Irrlehrer. Das ist auch eine Schuld derer, denen die Verkündigung des Glaubens aufgetragen ist, die dieses Amt aber nicht treu und beherzt ausüben. – Dabei ist es ein Werk der Barmherzigkeit – und nicht etwa kirchlicher Bervormundung – das „kostbare Gut“ des Glaubens (1 Tim 1,14) – unverkürzt, unverwässert und unverfälscht weiterzugeben. Manche fordern heute die „Christenrechte in der Kirche“ ein. Ob sie dabei a n das wichtigste Grundrecht des Gläubigen denken: den Glauben gemäß der Lehre der Kirche vermittelt zu bekommen?

3. Den Zweifelnden guten Rat geben. – „Guter Rat ist teuer“, heißt es, also: ein kostbares, rares Gut. Guter Rat ist auch eine Gnadengabe des Heiligen Geistes , um die wir nicht zu beten vergessen sollten.

4. Die Betrübten trösten. – Paulus preist zu Beginn des zweiten Briefs an die Korinther den „Gott allen Trostes. – Er tröstet uns in all unserer Not, damit auch wir die Kraft haben, alle zu trösten, die in Not sind, durch den Trost, mit dem auch wir von Gott getröstet werden“ (2 Kor 1, 4). Der glaubende Mensch ist danach der von Gott getröstete Mensch. Und als solcher hat er die Möglichkeit – und die Verpflichtung – seinerseits Trost zu spenden. Es sollte geradezu das Kennzeichen der Gläubigen sein, dass sie trösten können.

5. Unrecht mit Geduld ertragen. – Ein Werk, das nicht im Tun, sondern im Leiden besteht. Jemand hat gesagt: Diejenigen, die geduldig leiden, tun mehr für die Welt als die großen Macher.

6 .Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen. – Eine Aufgabe, an der man wohl ein Leben lang arbeiten muss. „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?“ Petrus meint, er habe schon hochgegriffen. Aber dann wird er von Jesus belehrt: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“. Das heißt: immer und immer wieder und in jedem Fall. (Mt 18,21-22)

Verzeihen ist schwer. Wenn einem wirklich weh getan wurde, heißt verzeihen: verzichten. Verzichten auf den Ausgleich, die Wiedergutmachung, die der andere mir schuldet. Vielleicht kann das nur der derjenige, der weiß, dass er selbst immer in der Schuld Gottes steht. Jesus macht das mit dem Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger deutlich (Mt 18, 23-35): Der Herr erläßt seinem Diener aus Mitleid die ungeheuere Summe von zehntausend Talenten, dieser aber läßt seinen Mitknecht wegen ein paar Denaren in den Schuldturm werfen. – „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, beten wir in jedem Vaterunser. Schuld ist das, was wir schuldig geblieben sind, die Liebe, die wir Gott und dem Nächsten schuldig geblieben sind. Wer sich dessen bewußt ist, wird sich leichter tun, seinerseits Schuld zu vergeben.

7. Für die Lebenden und die Toten beten. – Wer tut noch dieses Werk? – Immer weniger. Dabei hängt so viel von unserem Gebet ab. Für uns, unsere Nächsten, alle Lebenden und die Toten.
Auf dem Grab Adolph Kolpings in Köln stehen die Worte: „Hier ruht Adolph Kolping und bittet um das Almosen des Gebets“. Das Almosen des Gebets sollten wir den Lebenden und den Toten nicht vorenthalten.

Die letzte Seligpreisung der Bergpredigt gilt denen, die um der Gerechtigkeit und um des Glaubens willen Verfolgung leiden: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so würden schon vor euch die Propheten verfolgt“ (Mt 5, 10-11).

Freut euch und jubelt, wenn sie euch verfolgen, sagt der Herr. – Das hat sich ganz konkret erfüllt in den großen Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte.
Jubelnd und mit Freudenliedern auf den Lippen – so berichten die historischen Quellen – zogen die Christen in die römischen Arenen ein, um dort gekreuzigt, verbrannt oder den Löwen vorgeworfen zu werden – und verdarben durch dieses sieghafte Sterben dem Publikum seinen sadistischen Spaß.

Der hl. Cyprian, Bischof von Karthago, soll seinem Henker noch 2 Goldmünzen geschenkt haben als Belohnung dafür, dass er ihm das Sterben für Christus ermöglicht. Oder der junge Diakon Laurentius: Der wird auf einem Rost über dem Feuer zu Tode gemartert, weil er Christus nicht abschwören will. (Schon in der Antike war man sehr erfinderisch im Quälen…)
Vom Rost herab ruft Laurentius seinen Peinigern zu: „Jetzt ist der Braten bald gar; wendet ihn noch einmal und dann könnt ihr ja zum Festmahl kommen!“

Nicht dass die Christen Masochisten wären, dass sie Vergnügen an Schmerz und Leiden hätten. Auch der Christ möchte lieber, dass es ihm gut geht als schlecht.
Und trotzdem bleibt das Phänomen bestehen, dass die frühchristlichen Märtyrer fröhlich zur Hinrichtung schritten. – Sie fürchteten sich nicht vor denen, „die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können (Mt 10,28). Sie wußten, dass das Sterben für Christus in Wahrheit nicht schlecht für sie war, sondern gut: das Tor zum Himmel. Jenen Himmel, den Stephanus, der erste Blutzeuge der Christenheit, im Augenblick seines Todes offen vor sich sieht: „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur rechten Gottes stehen!“ (Apg. 7,56).
Der Tod – nicht das Ende des Lebens, sondern der Beginn eines neuen Lebens. Das Sterben – das Hineingeborenwerden ins Licht, in Christus, der das Licht der Welt ist.

Unsterblich die Worte, die der hl. Ignatius von Antiochien, die Hinrichtung vor Augen, in einem Trostbrief an die christliche Gemeinde schreibt: „Für mich ist es besser, in Jesus Christus zu sterben, als König über die ganze Erde zu werden. Ich suche ihn, der für uns gestorben, nach ihm verlange ich, der für uns auferstanden ist. Mit steht die Geburt bevor. Ver zeiht mir, Brüder! Hindert mich nicht, zum Leben zu gelangen. Ich möchte Gott gehören, gönnt mich nicht der Welt und täuscht mich nicht mit dem Irdischen! Laßt mich das reine Licht empfangen! Wenn ich dorthin gelange, dann erst bin ich Mensch“ (Epistola ad Romanos – Cap. 6, 1-7).

Es war diese Gewissheit des Ewigen Lebens bei Christus, die die verfolgten Christen über ihre Henker triumphieren ließ.

Dazu kam noch ein weiteres Motiv; der Gedanke, dass es eine Ehre ist, eine Auszeichnung, für Christus leiden zu dürfen. So heißt es schon von den Aposteln, als sie wieder einmal vor dem Hohen Rat verhört und anschließend ausgepeitscht wurden: „Sie aber gingen weg und freuten sich, dass sie gewürdigt worden waren, für Jesu Namen Schmach zu erleiden“ (Apg. 5,41).
Es ist das Reifezeugnis, das Siegel des wahren Jüngers, dass er für seinen Herrn kämpfen und leiden darf. Wenn das aber stimmt, dann gilt: Wann immer wir um des Glaubens und um der Nachfolge Christi willen Anfeindung erfahren, Verleumdung, Gehässigkeit, Zurücksetzung, Spott dürfen wir deshalb keine Bitterkeit in uns aufkommen lassen. Sondern wir müssen das Wort des Herrn im Ohr haben: „Freut euch und jubelt. – Denn so ist es schon vor euch den Propheten gegangen“. Umgekehrt aber gilt: „Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht“ (Lk 6,26).
Ein Christ, der von allen Menschen gelobt wird, der nirgends aneckt, keinen Feind hat: mit dem kann etwas nicht stimmen. Und auch eine Kirche, die aller Welt Liebling wäre und nur Applaus bekäme müsste sich ernstlich fragen, ob sie noch auf dem Weg Jesu Christi ist. – Denn das ist nicht der Weg des geringsten Widerstands. Christsein ist wesentlich nonkonformistisch, d.h. nicht angepasst.

„Wisst ihr nicht“, fragt in aller Härte der Jakobusbrief (4,4), „dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, der wird zum Feind Gottes. Ordnet euch also Gott unter, leistet dem Teufel Widerstand; dann wird er vor euch fliehen. Sucht die Nähe Gottes; dann wird er sich euch nähern“.