Der gewappnete Engel

St.Michael

Über den heiligen Michael
Pfarrer Dr. Johannes Holdt

Zu Beginn des Herbstes, wenn die Sonne ins Sternbild der Waage tritt, begeht die Kirche das Fest des Erzengels Michael. Das kosmische Zeichen erinnert an die Aufgabe des Seelenwägens, die dem hl. Michael zugeschrieben wird. Die herbstliche Jahreszeit aber verweist auf die Ernte am Ende der Zeit, die nach dem Evangelium von den Engeln eingebracht wird.

„Wer ist wie Gott?“ – das bedeutet der Name Michael seinem hebräischen Wortsinn nach. Das wichtigste biblische Zeugnis für Michael findet sich im letzten Buch der Schrift, der Apokalypse. Der Seher Johannes schaut in einer Vision einen Kampf im Himmel zwischen den guten und den bösen Engelmächten:

„Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten, und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt…und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen“ (Offb 12, 7-9).

Michael erscheint hier als Kämpfer gegen Satan und die Dämonen, jene Geistwesen, die sich von Gott abgekehrt haben. Sein Name ist Programm: Wer ist wie Gott? – Wer will es wagen, Gott den Rang streitig zu machen? – Wer will die Ehre und Majestät des Schöpfers angreifen?

Auch im Alten Testament ist die Gestalt des Michael präsent. Dem Propheten Daniel wird Michael als „der große Engelfürst“ offenbart, „der für die Söhne deines Volkes eintritt“ (Dan 12,1).
Aus dieser Stelle läßt sich zum einen der hohe hierarchische Rang des Engels entnehmen („großer Engelfürst“), zum anderen seine Hinordnung auf das Gottesvolk der Gläubigen. Wiederholt erfährt Israel in seiner Geschichte die Hilfe seines himmlischen Schirmherrn, am eindrucksvollsten vielleicht bei der wunderbaren Einnahme der Festung Jericho. Die Mauern der als uneinnehmbar geltenden Stadt wurden bekanntlich nicht durch Waffengewalt, sondern allein durch den Schall der Hörner und Posaunen zum Einsturz gebracht. Welche Macht hinter diesem wunderbaren Sieg steht, erfährt man aus der Vorgeschichte des Jericho-Berichts:

„Als Josua, der Anführer Israels, bei Jericho war und Ausschau hielt, sah er plötzlich einen Mann mit einem gezückten Schwert in der Hand vor sich stehen. Josua ging auf ihn zu und fragte ihn: Gehörst du zu uns oder zu unsern Feinden? Er antwortete: Nein, ich bin der Anführer des Heeres des Herrn. Ich bin soeben gekommen. Da warf sich Josua vor ihm zu Boden, um ihm zu huldigen und fragte ihn: Was befiehlt mein Herr seinem Knecht? Der Anführer des Heeres des Herrn antwortete Josua: Zieh deine Schuhe aus. Denn der Ort, wo du stehst, ist heilig. Und Josua tat es „(Jos 5, 13-15).

Auch wenn die geheimnisvolle Gestalt mit dem gezückten Schwert ihren Namen nicht nennt, so kann in der Zusammenschau mit anderen Schriftstellen kein Zweifel bestehen, dass der „Anführer des Heeres des Herrn“ niemand anderes als der zum Schutz des Gottesvolkes bestimmte Michael ist. Das Heer des Herrn unter seinem Anführer Michael also war es, das in Jericho unsichtbar für die Israeliten kämpfte.

Ähnliches wird später der Prophet Elischa erleben. Als die Stadt Dotan von den feindlichen Truppen der Aramäer eingeschlossen ist, wendet sich ein Diener des Propheten an Elischa: „Wehe, mein Herr, was sollen wir tun? Doch dieser sagt: Fürchte dich nicht. Bei uns sind mehr als bei jenen. Dann betete Elischa: Herr, öffne ihm die Augen, damit er sieht. Und der Herr öffnete dem Diener die Augen: Er sah den Berg rings um Elischa voll von feurigen Pferden und Wagen“ (2 Kön 6, 15-17).

Dass der hl. Michael sein Schutzamt auch über das Gottesvolk des Neuen Bundes, die Kirche, ausübt, war von Anfang an die Überzeugung der Christen. Der „Hirte des Hermas“, einer der ältesten Texte der christlichen Literatur, ist ganz von diesem Gedanken bestimmt. Hermas, der in der Mitte des 2. Jahrhunderts lebte, sagt, er spreche unter Einfluss des Engels der Buße und unter Einfluss Michaels: „Michael ist derjenige, der Macht über die Kirche hat und sie regiert“. Später wurde der Erzengel offiziell mit dem Titel „Patron der Kirche“ belegt, um dessen Fürsprache in jeder Meßfeier (beim Confiteor) gebetet wurde.

Die Wurzeln des Michaelsfests am 29. September – die Erzengel Gabriel und Raphael hatten ursprünglich andere Gedenktage – reichen bis ins Rom des 5. Jahrhunderts zurück. Papst Leo der Große war 452 bei Mantua, nur von einigen Priestern begleitet, dem Hunnenkönig Attila entgegegetreten, um ihn vom Einfall in Rom abzuhalten. Das Unglaubliche geschieht: Der grausame Khan läßt sich durch die Bitten des Papsts und das angebotene Lösegeld zum Abzug bewegen. Unmittelbar vor Antritt der gefährlichen Mission hatte Leo die Ewige Stadt feierlich dem Michael geweiht. Und nach der glücklichen Heimkehr ließ er auf der Via Salaria, am Ausgang Roms, eine Kirche zu Ehren des hl. Erzengels Michael erbauen. Von dieser ersten Michaelskirche im Abendland steht heute nichts mehr. Ihr Weihetag aber, der 29. September, wurde im Kalender zum Festtag des Erzengels.

Der christliche Osten war dem Westen in der Verehrung Michaels voraus. Schon 313, unmittelbar nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke im Zeichen des Kreuzes, hatte Kaiser Konstantin dem Erzengel zu Ehren eine Kirche in Byzanz errichten lassen, das „Michaelion“. Dessen Weihetag, der 8. Juli, wird von den Orthodoxen bis heute alljährlich mit großem Glanz begangen. Die byzantinischen Herrscher schlossen sich dem Vorbild Konstantins an, Justinian allein soll dem hl. Michael sechs Kirchen geweiht haben, in 15 Basiliken besaß der Erzengel eigene Altäre. Der Taufname Michael ist deshalb in den byzantinischen Kaiserfamilien und später in Rußland so häufig anzutreffen.

150 Jahre nach der Rettung Roms vor den Hunnen sollte das mittelitalienische Städtchen Siponto, im Herzen Apuliens am Monte Gargano gelegen, zum eigentlichen Ausgangspunkt der Michaelsverehrung im Abendland werden.
Dreimal erschien der Erzengel in den Jahren 490 bis 493 auf dem Gargano. Von der dritten und letzten Erscheinung wird Folgendes berichtet:
In der Nacht des 29. Septembers 493 offenbarte sich Michael dem Bischof von Siponto. Er forderte dazu auf, eine Höhle im Gargano, die er schon in den Jahren zuvor als heiligen, ihm geweihten Ort bezeichnet hatte, künftig als Kirche zu nutzen:
„Nicht du sollst meine Höhle zum Heiligtum weihen, denn der sie kundgemacht, hat sie schon geweiht. Ich, der Herr der Höhle, rufe euch nun in mein Heiligtum, damit ihr dort furchtlos die heiligen Mysterien feiert. Denn ich habe diese Höhle zu einer Basilika geweiht, auf dass in diesem Haus Gottes die Sünden der Menschen vergeben und alle Schuld dort abgewaschen werde“.
Als in der Morgenfrühe Bischof und Volk zögernd die Höhle betraten, fanden sie Zeichen der Weihe: Ein Fels im Innern, auf dem der Engel ein Jahr zuvor den Abdruck seines >Fußes< hinterlassen hatte, war mit einem pupurroten Tuch bedeckt, wie es in der griechischen Kirche die Weihe eines Altars anzeigt.

Die Nachricht über die wunderbaren Ereignisse am Gargano verbreitete sich in Windeseile. Papst Gelasius I. ließ über der heiligen Grotte eine Basilika errichten, zu deren Schmuck der byzantinische Kaiser Zenon Marmor aus Konstantinopel schickte. Bald kamen Pilger aus nah und fern. Der Monte San Angelo wurde zu einem der bekanntesten Wallfahrtsorte der Christenheit, zu dem während des ganzen Mittelalters die Gläubigen pilgerten, darunter auch Päpste und Kaiser, aber auch Heilige wie Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin, Birgitta von Schweden oder Franziskus. Übrigens hielt sich der Poverello aus Assisi nicht für würdig genug, das Heiligtum zu betreten. Als er die Mahnung am Türbogen vor der Höhle las: „Terribile es locus iste – hic est porta Coeli“ (schaudererregend ist dieser Ort – hier ist das Tor des Himmels), zog er es vor, die ganze Nacht betend auf der Schwelle zu verbringen.

Die Ereignisse am Gargano lösten eine Welle der Michaelsverehrung in ganz Europa aus. Unzählige Kirchen, Kapellen und heilige Orte (besonders Berge) wurden dem Erzengel geweiht. An Berühmtheit dem Gargano gleichkommen und die Verehrung Michaels vollends verbreiten sollten dabei besonders die Felseninsel Mont-Saint-Michel vor der Küste der Normandie (709 n.Chr.) und die Engelsburg beim Vatikan in Rom.
Die mächtige Bronzestatue eines das Schwert zückenden Engels krönt das berühmte Bauwerk am Tiber. So sah Papst Gregor der Große den Erzengel Michael, als er 590 eine Bittprozession zur Beendigung der Pest in Rom anführte. Als sich die Prozession von Santa Maria Maggiore zurückkehrend dem Tiber nähert, hört man vom gegenüberliegenden Ufer Stimmen den Hymnus „Regina Caeli“ singen. Das Mausoleum des Kaisers Hadrian scheint plötzlich in Flammen zu stehen und über der Turmspitze erscheint ein junger Mann in Kriegsrüstung, der sein Schwert langsam in die Scheide steckt. Gregor hegt keine Zweifel über die Identität der himmlischen Erscheinung: Es ist der hl. Michael, der das Ende der Epidemie ankündigt. Gregor läßt zum Zeichen der Dankbarkeit das römische Monument in „Engelsburg“ umbenennen und im Innern eine Nachbildung der unterirdischen Basilika vom Monte Gargano errichten.

Tief ist die Spur, die die Gestalt des gewappneten Engels in die Geschichte des Abendlands einzeichnet. Beeindruckt vom kämpferischen Charakter Michaels wählen ihn Deutsche wie Franzosen zu ihrem Schirmherrn. Das Mittelalter gibt seinen Rittern den himmlischen Krieger zum Vorbild, was seinen literarischen Niederschlag im berühmten „Rolandslied“ findet. Im Jahr 813 weiht Karl der Große am Ende des Konzils von Mainz seine Staaten und seine Banner dem Erzengel Michael. Von nun an trägt das Reichsbanner das Bildnis des Erzengels und die Inschrift: „Ecce Michael, Princeps magnus, venit in adiutorium mihi“ (Das ist Michael, der große Fürst, er kommt mir zu Hilfe).

Da Engel rein geistige, das heißt nicht-materielle Wesen sind, sind sie den Sinnesorganen unkenntlich. Es gehört eine besondere Sehergabe dazu, um Engel wahrzunehmen. Einigen Heiligen war das gegeben, darunter einer der erstaunlichsten Gestalten der Geschichte , der Jungfrau von Orleans:
Frankreich befindet sich im „hundertjährigen Krieg“ mit England. Das Land blutet unter dem endlosen Krieg, der Fremdherrschaft, dem Chaos auf den Straßen. Da betritt ein siebzehnjähriges Bauernmädchen die politische Bühne, Jeanne d`Arc, die sich selbst „Jeanne la pucelle, fille de Dieu“ (Johanna, die Jungfrau, Tochter Gottes) nennt. Auf nicht erklärbare Weise gelingt es diesem Mädchen, in die große Politik einzugreifen: Sie führt die französischen Truppen zum Sieg über die Engländer und den rechtmäßigen König zur Krönung. Dieses unglaubliche Geschehen geht -nach Johannas eigenen Worten – auf den Erzengel Michael zurück, den sie ganz schlicht „Moniseur Saint Michel“ nennt. In mehreren Begegnungen habe sie der große, gewappnete Engel, strahlend in einem Lichtglanz blendender als die Sonne, auf ihre Sendung vorbereitet: Sie solle gegen den großen Jammer Frankreichs kämpfen und den Willen G ottes wiederherstellen. Von Jeanne d´Arc stammt eine bedenkenswerte Bemerkung über die Engel: „Sie kommen oft zu den Christenmenschen, man sieht sie nur nicht. Ich selber habe sie oft bei ihnen gesehen“.

Was für die hl. Johanna noch eine Realität war, mit der sie auf Tuchfühlung lebte, die unsichtbare Welt, entschwand mit der Neuzeit mehr und mehr ins Wesenlose. Rationalismus und Materialismus, die nur gelten lassen, was man zählen, messen und berechnen kann, wurden zum beherrschenden Daseinsverständnis. Auch die Christenheit konnte sich dem nicht entziehen. Damit aber wurde die Engelverehrung obsolet, „unzeitgemäß“. 19. und 20. Jahrhundert wußten zu den Engeln praktisch nichts mehr zu sagen. Auch die Versuche der Päpste Pius IX. und Leo XIII. die Engel und besonders den hl. Michael wieder mehr ins Zentrum zu rücken, fruchteten wenig.

Nun hat ein neues Jahrhundert begonnen. Vielleicht ist es wieder durchlässiger für die Welt der Engel. Vielleicht erinnert man sich in Theologie und Kirche wieder der Schätze der christlichen Weisheitstradition und überläßt die Engel nicht länger der Esoterik. Vielleicht erkennt die Christenheit, dass gegen das Gespenst eines größenwahnsinnigen Menschenzüchtertums und andere Dämonen nur ein Exorzismus hilft: der Name des Erzengels „Wer ist wie Gott“. Vielleicht – und das wäre das Wichtigste – beginnen die Gläubigen wieder nach dem Vorbild so vieler christlicher Generationen, sich im Gebet an Michael und die anderen Himmelsboten zu wenden. Sind sie doch nach den Worten des Hebräerbriefs (1,14) alle „ausgesandt, denen zu helfen, die das Heil erben sollen“.

Literaturhinweise:

Alfons Rosenberg, Michael und der Drache, Olten 1956.Anne Bernet, Die Engel – unsere himmlischen Helfer, Parvis-Verlag Hauteville 1998. (Die beste zur Zeit erhältliche Darstellung der katholischen Engellehre.)