Pfarrer Dr. Johannes Holdt
Zu den Besonderheiten des Heiligen Jahres 2000 gehörte der Jubiläumsablass, den Papst Johannes Paul II. ausgeschrieben hatte. Der Papst nannte diesen Ablass „eines der wesentlichen Elemente des Jubiläumsereignisses1“.
An jedem Tag des Jahres konnte – unter bestimmten Voraussetzungen – ein Ablass, das heißt: ein Nachlass zeitlicher Sündenstrafen für die eigene Person oder für einen Verstorbenen erworben werden. Es sollte dies ein besonderes Zeichen der Gnade im Heiligen Jahr sein.
Damit wurde ein Thema aktuell, das aus dem kirchlichen Leben (zumindest in Deutschland) bereits weitgehend verschwunden war. Die meisten Katholiken kennen den Ablass nur noch aus dem Geschichtsunterricht. Dort begegnet er als als einer jener mittelalterlichen Mißstände, die zur Reformation führten. Tatsächlich stand am Anfang der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert der sogenannte „Ablass-Streit“. Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther – damals noch Priester und Augustinermönch – seine berühmten 95 Thesen „Über Wert und Kraft der Ablässe“ an das Tor der Schloßkirche zu Wittenberg. Darin protestierte er gegen ein veräußerlichtes Bußverständnis, das sich im Ablasshandel Ausdruck verschaffte. – Unerleuchtete Kirchenvertreter hatten aus dem Ablass ein Geschäft gemacht. Besonders der Ablassprediger Johannes Tetzel spielte hier eine unrühmliche Rolle. – “ Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele [eines Verstorbenen im Fegefeuer] in den Himmel springt“, lautete sein Werbeslogan. Hier wurde so getan, als ob man allein durch den Kauf eines Ablassbriefes Vergebung erlangen und in den Himmel kommen könne. Zu Recht empörte Luther sich über ein so primitives Glaubensverständnis: „Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“(These 1). Mit anderen Worten: Buße muss ein existentieller Akt sein, eine Gesinnung in der Tiefe der Person, ansonsten ist jedes äußere Bußwerk umsonst getan.
Der Ablasshandel stellte einen bedauerlichen Mißbrauch des Ablasses dar. Nun gilt allerdings der Grundsatz: „Abusus non tollit usum“: Der Mißbrauch einer Sache hebt ihren richtigen Gebrauch nicht auf. Auch Luther räumte in seinen „95 Thesen“ ein: „Wenn der Ablass im Geiste und im Sinne des Papstes gepredigt würde, so ließen sich diese Einwände alle leicht entkräften, ja sie kämen gar nicht erst auf“2.
Fragen wir also: Worum geht es beim rechten Verständnis des Ablasses?
Die theologische Definition des Ablasses lautet: Der Ablass ist ein Nachlaß zeitlicher Strafen für Sünden, die hinsichtlich der Schuld von Gott bereits vergeben worden sind.
Der Ablass gehört zur Bußpraxis der Kirche. Die Kirche tritt für den Gläubigen, der im Bußsakrament mit Gott versöhnt wurde, ein, dass er von Strafen, die er sich durch seine Schuld möglicherweise zugezogen hat, befreit werde.
Hier wirft der Begriff „Strafe“ Fragen auf.
Strafe meint hier nicht eine göttliche Vergeltung. – Warum sollte Gott eine Sünde, die er in der Beichte vergeben hat, bestrafen?
Unter Strafe ist in diesem Zusammenhang das zu verstehen, was man den >Fluch der bösen Tat< nennen könnte: die inneren Nachwirkungen und Auswirkungen der Sünde. Das böse Tun des Menschen zeitigt Folgen, die auf ihn selbst zurückfallen. – „Inordinatus animus sibi ipsi est poena“, sagt der hl. Augustinus: Der ungeordnete Geist wird sich selbst zur Strafe. Durch Schuld – zum Beispiel durch hartherzigen Egoismus – schadet sich der Mensch selbst: Er nimmt Schaden an seiner Seele, Schaden im Verhältnis zu den andern, Schaden im Verhältnis zu Gott.
Diese letztgenannte Sündenfolge – die Trennung von Gott – ist das, was man die „ewige Sündenstrafe“ nennt; sie wird im Beichtsakrament aufgehoben. Andere schädliche Sündenfolgen können dabei aber bestehenbleiben: schlechte Gewohnheiten, eingewurzelte Fehlhaltungen, Neigung zur Selbstsucht und zum Bösen, Verletzungen in der eigenen Seele und bei anderen. Befreiung von solchen sogenannten „zeitlichen Sündenstrafen“ gewährt die Kirche (genauergesagt: der Apostolische Stuhl) im Ablass. Auch den Verstorbenen gilt dabei die Fürbitte der Kirche; jenen nämlich, die im Jenseits noch Läuterungs-und Reifungsprozesse durchzumachen haben (im „Fegefeuer“).
Im Ablass tritt die Kirche als große Fürbittgemeinschaft in Erscheinung. Wie es nämlich einen Fluch der bösen Tat gibt, so gibt es auch einen Segen, eine heilsame Wirkung der guten Tat. – Im Ablass wendet die Kirche diesen Segen des Guten aus dem sogenannten „Gnadenschatz Christi und der Heiligen“ dem Sünder zu. Papst Johannes Paul erläutert dies (in der Verkündigungsbulle zum Jubiläumsjahr) folgendermaßen:
„So kommt es zwischen den Gläubigen zu einem wunderbaren Austausch geistlicher Güter, kraft dessen die Heiligkeit des einen den anderen zugute kommt, und zwar mehr als die Sünde des einen den anderen schaden kann. Es gibt Menschen, die geradezu ein Übermaß an Liebe, an ertragenem Leid, an Reinheit und Wahrheit zurücklassen, das die anderen einbezieht und aufrichtet. Es ist die Wirklichkeit der >Stellvertreterschaft<, auf die sich das ganze Geheimnis Christi gründet“3.
Ablässe werden zu besonderen Anlässen gewährt. Jedes Jahr ist das etwa der päpstliche Segen „Urbi et Orbi“ an Weihnachten und an Ostern. Eine große Rolle spielten früher auch der Allerseelenablass am 1. November und der Portiunkula-Ablass am 2. August. (Dieser Ablass geht auf den hl.Franziskus zurück; besonders Franziskus und sein Orden machten den Ablass im Mittelalter populär im christlichen Volk. Auch dieses Faktum gehört zur – oft zu düster gezeichneten -Geschichte des Ablasswesens.)
Voraussetzungen zum Erwerb des Ablasses sind:
die innere Bereitung
Beichte und Kommunion
die Grundgebete des Christen (Vaterunser, Ave Maria, Glaubensbekenntnis); „nach Meinung des Hl. Vaters“ heißt: in Verbundenheit mit dem Papst, der den Ablass gewährt
Christus hat dem Petrus verheißen: „Was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 16,19). Im Ablass wird diese Binde-und Lösevollmacht des Petrusamtes konkret.
Gewiß, niemand ist verpflichtet, einen Ablass zu erlangen. Der Ablass ist nicht heilsnotwendig. Andererseits: Wenn uns die Kirche solch ein Gnadenmittel anbietet, warum sollten wir es dann ausschlagen?
In einem Informationsblatt über den Ablass das die Deutsche Bischofkonferenz herausgegeben hat, heißt es: „In Jesus Christus ist die Menschenfreundlichkeit Gottes unter uns erschienen; er enthüllt das Antlitz Gottes, des Vaters voll Erbarmen und Mitleid. Zu den Zeichen, die uns helfen, die Schwelle des neuen Jahrtausends als eine Schwelle der Hoffnung zu überschreiten und andern Zeugnis zu geben von unserer Hoffnung, gehört auch der Ablass“.
Anmerkungen
Verkündigungsbulle des Großen Jubiläums zum Jahr 2000 „Incarnationis Mysterium“, Nr. 9.
These 91. Grundsätzlich bejaht wird der Ablass auch in den folgenden Thesen: „Dennoch soll man den Ablass nicht geringachten, weil er die Verkündigung der göttlichen Vergebung ist“(38). – „Wer gegen die Wahrheit des apostolischen Ablasses spricht, der sei verdammt und verflucht“(71).
„Incarnationis Mysterium“, Nr. 10.
Literaturempfehlung:
Joseph Kardinal Ratzinger, Portiunkula – Was Ablass bedeutet, in: ders., Bilder der Hoffnung, Freiburg 1997, 91-100.