Gottesfurcht oder Menschenfurcht

Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis A (Mt 10, 26-33)

Von Friedrich Hebbel stammt das Wort: „Viele glauben nichts, aber fürchten alles“.

Eine zutreffende Beobachtung. Es gibt wenig Glaube, aber viel Angst in unserer Welt. Und man darf vermuten, daß hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Im gleichen Zeitraum, in dem sich die Kirchen geradezu entvölkert haben, sind die Wartezimmer der Psychologen und Psychiater übervoll geworden. In meiner Heimatstadt Tübingen mit ihren 70000 Einwohnern gibt es über 200 niedergelassene Psychologen… Wie viele Zeitgenossen bestehen ihr Leben nur noch mit Hilfe von Psychopharmaka, von angstlösenden und stimmungsaufhellenden Medikamenten. Der Psychopharmakamarkt boomt. Den Ärzten gehen  die Verschreibungen leicht von der Hand. Aber denkt auch einmal jemand über die Ursachen  nach? Warum breiten sich Ängste und Depressionen epidemisch bei uns aus? Warum ist Angst der große Schatten, der über unserer angeblich so freien und fröhlichen modernen Welt  – unserer „fun-society“ – lastet?

„Viele glauben nichts, aber fürchten alles“.  –  Je weniger die Menschen glauben, desto mehr haben sie sich zu fürchten.

„O  mein Christ, lass Gott nur walten, bete seine Vorsicht an“ , haben wir vorhin gesungen. Das ist das Lebensgefühl, das der Glaube schenkt, ein Urvertrauen in die Fürsorge und Vorsorge des himmlischen Vaters. Gott, der den Spatzen gibt, was sie zum Leben brauchen, wieviel mehr wird er auf seine Menschenkinder schauen. Es  ist das ein Grundmotiv des Evangeliums. Immer wieder lädt Jesus uns ein, unsere Ängste und Sorgen zu lassen und stattdessen auf die Vatergüte Gottes zu vertrauen. Denken wir an die Bergpredigt: „Seht die Lilien auf dem Feld – seht die Vögel des Himmels – sie säen nicht, sie ernten nicht, euer himmlischer Vater ernährt sie. – Sorgt euch also nicht um euer Leben!“ Und im heutigen Evangelium heißt es gleich dreimal: „Fürchtet euch nicht! – Fürchtet euch nicht vor den Menschen!“  Der Glaube, das feste Gottvertrauen schützt vor Angst und Sorgen. Die kommen zwar auch den gläubigen Menschen in den Schwierigkeiten des Lebens an. Aber sie können ihn nicht völlig beherrschen und in den Grundfesten der Existenz erschüttern. Der Gläubige weiß: Was auch passiert  –  Gott ist bei mir, und das ist das Wichtigste.  Neben allem anderen, was der Glaube dem Menschen schenkt, ist er eine seelische Imprägnierung gegen Sorgen und Furcht.

Mit einer Ausnahme: der Gottesfurcht.  Sie gehört sogar wesentlich zum rechten Glauben, wie wir es auch im heutigen Evangelium gehört haben: Wir sollen uns nicht vor den Menschen fürchten, selbst  wenn sie uns an Leib und Leben bedrohen  –  unserer unsterblichen Seele können sie ja nichts anhaben. Wohl aber sollen wir den fürchten, der Schöpfer und Herr unseres Lebens ist, Gott.  Die einzig berechtigte Furcht ist: Gott zu beleidigen, die Freundschaft und Verbundenheit mit Gott zu verspielen. Die einzig wirklich notwendige Sorge ist, so zu leben, daß wir Gott gefallen. Darum heißt es auch in der schon erwähnten Stelle der Bergpredigt: „Sorgt euch nicht um euer Leben. – Sorgt euch aber um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, dann wird euch alles  übrige dazugegeben“.  Zu dieser Sorge um das Reich Gottes gehört das Zeugnisgeben und freimütige Eintreten für den Glauben, ob gelegen oder ungelegen.

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern“.  Ein provozierendes Wort.  Während man normalerweise aus Menschenfurcht und Opportunismus darum bemüht ist, ja nicht aufzufallen und aus der Gesellschaft auszuscheren, so soll jetzt für den Christen gelten: Aus Gottesfurcht Farbe bekennen ohne Menschenfurcht.

Letztlich ist jeder vor die Entscheidung gestellt: die Gottesfurcht zu wählen oder die Menschenfurcht.  Wer die Menschenfurcht wählt, wählt ein Leben der Anpassung an die große Masse und der Unterordnung unter das, was grade gang und gäbe ist, ein Leben voller heimlichem Druck, voller Zwängen und faulen Kompromissen.

Wer die Gottesfurcht wählt, wählt die Freiheit der Kinder Gottes, eine Freiheit, die weiß, daß es letztlich auf Gott allein ankommt und darauf, daß wir zu ihm gehören; daß alles andere in dieser Welt aber zweitrangig, relativ und vorläufig ist.  Entscheiden wir uns immer wieder neu für dieses Lebensprogramm. Und bekennen wir uns ohne  Menschenfurcht zu Christus und seiner Wahrheit, damit auch er sich zu uns bekennt vor seinem Vater im Himmel.

Amen.