Die Würde des Menschen ist unantastbar

Predigt auf dem KZ-Friedhof Schömberg

 Das Zwanzigste Jahrhundert hat die Menschheit auf die höchsten Gipfel technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts geführt – und andererseits Abgründe von Barbarei und Unmenschlichkeit aufgetan, wie sie die Welt  bis dahin nicht kannte.
Und in diese janusköpfige Geschichte sind wir selbst hineinverflochten.
Wir stehen hier an den Gräbern von fast 2000 Ermordeten.
Angehörige vieler Nationen starben hier vor 50 Jahren einen grausamen Tod.
Sie starben an Unterernährung und Seuchen, nicht wenige wurden Opfer brutaler sadistischer Exzesse.

Ein Überlebender, der Holländer Floris Bakels, schrieb über die Zustände im Lager folgendes:
„Das KZ Dautmergen/Schömberg war ein Ort von unvorstellbarem  Schrecken. Alles beherrschend war der Schlamm, der einen halben Meter tief war. Dieser Schlamm war ein bodenloser  Schrecken. Man sackte weg. Alle Häftlinge litten an Ruhr. Der Lagerführer war ein Sadist. Die ganze Wäsche und Kleidung war fast unlöslich mit der Haut durch eine dicke Schicht Schlamm und Kot verbunden. Auch die Stärksten unter uns waren am Ende ihrer Kräfte. Es war ein so grauenhafter Ort, das man sich einen furchtbareren nicht vorstellen konnte. Jede Minute war ein Kampf auf Leben und Tod. Ich habe sehr oft gebetet. Das Gebet war eine direkte Verbindung zu Christus, der den Betenden wirklich und wahrnehmbar erhörte, ihm beistand, ja, sich hinter oder neben ihn stellte“.

Ich meine, gerade dieser Erfahrungsbericht ist wichtig für uns in dieser Stunde. Denn er beschwört den Schrecken dieses Orts herauf, zeigt aber auch, von woher ein Strahl der Hoffnung ins Elend der KZ-Häftlinge fiel: Von Gott her, dem Gnädigen und Barmherzigen und dem Gerechten, der auf der Seite der Opfer steht, nicht der Täter, der die >Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, der die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen läßt< (vgl. Lk  1, 52f.).
Wenn Floris Bakels und andere KZ-Opfer in diesem Gott Trost und Halt gefunden haben, ja wenn sie – wie er sagt –  Jesu Christi ganz reale, liebende und tröstende Gegenwart erfahren haben, dann sind wir berechtigt, an diesem traurigen Ort Christus und sein Reich als die Hoffnung der Entrechteten, Unterdrückten und Ermordeten zu proklamieren.

„Niemand und nichts ist vergessen“ – die Inschrift auf dem Friedhofs-Mahnmal ist der Leitgedanke, unter dem sich Gläubige beider Konfessionen seit 1977  Jahr für Jahr hier am Volkstrauertag versammeln. Hier wird kein „Schlußstrich“ gezogen werden, hier wird – ob es dem Zeitgeist genehm ist oder nicht – wenigstens einmal im Jahr die Erinnerung an die humanitäre Katastrophe vor unserer eigenen Haustür wachgerufen werden, den Toten zur Ehre, uns zur Mahnung.
Denn das gehört ja auch zum Sinn des Erinnerns: Aus der Betrachtung der Vergangenheit für die eigene Gegenwart und Zukunft lernen. – Wer das Vergangene vergisst oder verdrängt, steht in Gefahr, es nochmals zu erleben, wenn vielleicht auch in veränderter Gestalt.
Und was ist nun die Lehre des KZ-Friedhofs Schömberg/Dautmergen und all  der andern Schreckensstätten des Nationalsozialismus?
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes, der Verfassung des neuen demokratischen, auf den Trümmern des >Dritten Reichs< errichteten Deutschlands, suchten die Lehre der Geschichte in einem Satz zusammenzufassen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1 des Grundgesetzes).

Jeder Mensch ist in seinem Lebensrecht  unantastbar für die andern, auch für die staatliche Gewalt. Niemand hat das Recht, über das Leben eines andern zu verfügen, egal welcher Nation oder Rasse er ist, welcher Religion oder Weltanschauung, ob er alt oder jung ist, geboren oder ungeboren, behindert und pflegebedürftig oder gesund.  Jeder, der zur Spezies Mensch gehört, ist für die andern unantastbar.
So steht es im Grundgesetz. Das soll das erste und grundlegende Prinzip einer Gesellschaft sein, die aus KZ’s, Gettos, Rassenwahn und der Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ gelernt hat.  „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat Albert Schweitzer dasselbe ethische Grundprinzip genannt.
Frage: Ist diese Lehre wirklich begriffen worden?  Wissen es alle ein für allemal, daß der Mensch dem Menschen heilig zu sein hat?
Wie aber habe ich dann eine Zeitungsmeldung vom 8. Oktober dieses Jahres zu verstehen, einen Bericht über den Deutschen Kongress für Philosophie in Konstanz. Der Professor für Medizinische Ethik Dieter Birnbacher, heißt es da, befürwortet „eine erleichterte Freigabe genetischer Selektionen und Abtreibungen bis zur Geburt. Die Vorteile einer gewissen Auswahl am Lebensbeginn seien höher als die möglichen Nachteile. Andere Philosophen forderten, auch das Klonen von Menschen – die Vervielfältigung genetisch gleicher Menschen – zuzulassen“ (Zollernalbkurier 8.10.99).

Liebe Mitchristen, soll das die „schöne neue Welt“ des nächsten Jahrtausends sein? Ethikprofessoren und Mediziner, die „selektieren“ (dass den Leuten nicht das Wort im Hals stecken bleibt!), die also bestimmen, wer  ein Lebensrecht hat und wer nicht, und die „genetisch hochwertige“ Menschen vervielfältigen, auf dass „Leiden verringert und Leistungen gesteigert werden können“(ebd.).
Dieses eine Beispiel erhellt schlaglichtartig, wie es um die Lehre aus der Geschichte bei uns in Wahrheit bestellt ist. Ohne jeden Skrupel geriert sich der Mensch als Herr über Leben und Tod, ja als Kreator neuer Menschentypen. Rassenwahn, Züchtung des Herrenmenschen, Eliminierung des Lebensunwerten: all das scheint fröhliche Urständ zu feiern im Gewand moderner Wissenschaftlichkeit.
Da kann es einem eiskalt den Rücken herunterlaufen.
Und es wird  klar, wie notwendig auch in Zukunft das sein wird, was wir hier jedes Jahr am Nachmittag des Volkstrauertages tun: An die Opfer vergangener Unmenschlichkeit erinnern, die Mahnung der Geschichte bedenken und die Gewissen wachhalten gegenüber neuem Unrecht.
Gebe Gott, dass wir dadurch in unserem Bereich einen Beitrag zu einer menschlicheren Welt leisten können.

Amen.