Das Kreuz – der Schlüssel zum Welträtsel

Predigt zum Karfreitag

Es war um die neunte Stunde, also um drei Uhr nachmittags, als Jesus Christus am Freitag in der Paschawoche des Jahres 30 auf Golgotha starb.  Am Karfreitag des Jahres 2001 werden sich wiederum Gläubige auf der ganzen Welt in der Todesstunde Jesu versammeln, um des Kreuzestodes ihres Herrn zu gedenken.

John Henry Newman, dessen zweihundertsten Geburtstag wir in diesem Jahr begehen,  schreibt über die Bedeutung des Kreuzes Christi: „Laßt uns fragen: Was ist der wirkliche Schlüssel, was ist die christliche Interpretation dieser Welt? Was ist uns von Gott gegeben, wonach wir diese Welt einzuschätzen und zu messen haben? Es ist die Kreuzigung des Sohnes Gottes. Sein Tod ist unsere große Lektion, wie wir von dieser Welt zu denken haben. Sein Kreuz gibt den richtigen Wert einem jeden Ding, das wir sehen, allen Glücksgütern, allen Vorteilen, jedem Rang, allen Würden, allen Vergnügungen. Sein Kreuz hat einen Sinn gegeben dem veränderlichen wechselnden Lauf, den Prüfungen, den Versuchungen, den Leiden dieser iridischen Dinge. Das Kreuz des Herrn hat zusammengebracht und zusammenhängend gemacht alles, was sich zu widerstreiten und ziellos zu sein schien. Es hat uns gelehrt, was zu wünschen, was zu hoffen ist. Es ist der Klang, in welchem alle Töne der Musik dieser Welt schließlich sich ausflösen sollen“ („Das Mysterium der Dreieinigkeit und der Menschwerdung Gottes“).

Das Kreuz auf Golgotha: der große Schlüssel zum Verständnis der Welt und des menschlichen Lebens. Nur im Licht des Kreuzes sieht man die Welt und den Menschen richtig. Man sieht die Schlechtigkeit dieser Welt, und man sieht zugleich, was dem Dasein trotzdem Sinn gibt.

Die Schlechtigkeit unserer Welt, sie wird vom Kreuz Jesu schonungslos aufgedeckt. Dass die Menschen den Sohn Gottes, den Erlöser der Welt ans Kreuz genagelt haben, das ist der eigentliche Sündenfall der Weltgeschichte. Die ganze grauenhafte Niederträchtigkeit, zu der Menschen fähig sind, zeigt sich in der Ermordung Jesu. Und alle sind daran beteiligt: Große und Kleine, das Volk und seine Führer, Juden und Römer, die weltliche und die geistliche Obrigkeit und auch die so jämmerlich versagende Jüngergemeinde: alle Protagonisten der Passionsgeschichte stehen als Repräsentanten der Menschheitsfamilie da. – Auf Golgotha hat die Menschheit den Sohn Gottes hingerichtet. So bleibt es stehen für alle Zeiten. Das ist das Gericht über die Welt (vgl. Joh 12,31). Und wenn die Welt noch so groß tut und sich aufspielt mit ihrem Können und mit ihrem Fortschritt,  mit ihrem Wohlstand und ihrem Spaß: Auf Golgotha hat sie ein für allemal ihr wahres Gesicht gezeigt.  Und es ist ein hässliches, ein grausames Gesicht. – Das Kreuz durchkreuzt also vieles, was groß und wichtig zu sein scheint, vielen schönen Schein, viele falschen Ideale und Idole, viele Lebenslügen. – Das ist die richtende Seite des Kreuzes.

Das Kreuz hat aber auch eine aufrichtende  Seite: Es richtet vieles auf, was klein und unwichtig und sinnlos zu sein scheint in unserer Welt.  Wir sagen: Christus hat durch sein Kreuz die Welt erlöst.  Nicht durch seine Wundertaten, nicht durch die Verkündigung des Evangeliums. Sondern durch sein Leiden und Sterben am Kreuz.  Das Kreuz gibt somit die Antwort auf die wichtigste Lebensfage: die Frage nach dem Leiden und nach dem Tod.  Wo immer Menschen Leid und Tod begegnen, dürfen sie auf den Gekreuzigten schauen. Er ist die Antwort. Und diese Antwort heißt: Hoffnung in aller äußeren Trostlosigkeit, Sinn in aller scheinbaren Sinnlosigkeit, Leben aus Sterben und Tod. Die geduldig leiden und ihr Kreuz tragen sind vielleicht wichtiger für die Welt als die großen „Macher“. Weil sie auf geheimnisvolle Weise teilhaben am Kreuz Christi, an seinem heilbringenden Leiden.

Das Kreuz auf Golgotha: Der Schlüssel zum Welträtsel, die Umwertung aller irdischen Werte, die Mitte und Achse der Weltgeschichte. Wirklich, in solchen kosmischen Dimensionen müssen wir das Kreuz sehen.  Und wir verstehen, warum die Gläubigen am Karfreitag vor diesem Kreuz des Herrn die Knie beugen.