Was ist Wahrheit?

KARFREITAG

Liebe Gläubige,

es war um die neunte Stunde, das heißt, um drei Uhr nachmittags, als Jesus am Kreuz starb, das Haupt neigte und Seinen Geist hingab. Um drei Uhr nachmittags haben auch wir uns am heutigen Karfreitag versammelt, in der Gemeinschaft mit unzähligen Christen in der ganzen Welt, die mit uns jetzt in dieser Stunde zum Gekreuzigten aufschauen. Aus der Passionsgeschichte lassen Sie mich nur zwei Momente kurz herausgreifen.

Die Frage des Pilatus, die sprichwörtlich gewordene Frage: „Was ist Wahrheit?“ – Die Frage bleibt offen, und ist damit uns allen gestellt: „Was ist Wahrheit?“ Wissen wir die Antwort auf diese Frage, liebe Gläubige? Die Antwort, die Christus selbst in diesem Evangelium gibt: Ich bin die Wahrheit – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Christus selbst ist die Wahrheit. Seine Worte, Sein Leben und Sein Leiden, Seine ganze Person, das ist die Wahrheit.

Seht da, den Menschen! – So zeigt Pilatus Christus dem Volk. Seht da, den Menschen! Ecce homo! Pilatus weiß nicht, welch wahres Wort er damit sagt: Schaut auf diesen Menschen, schaut, da ist der einzige, der wirklich den Namen „Mensch“ verdient in dieser verlorenen Menschheit. An Christus sehen wir, wie der Mensch eigentlich gemeint ist, was die Bestimmung des Menschen ist, worauf es wirklich ankommt, was das wahre Leben ist. Nur wer sich an Jesus Christus orientiert, das heißt, wer Christus nachfolgt, Seinen Worten folgt, ganz treu und gewissenhaft sich an Jesu Wort hält, der ist auf dem Weg der Wahrheit, auf dem richtigen Weg, auf dem Weg des Lebens. Und umgekehrt: Wer sich von Christus und Seinem Wort abkehrt, der geht unweigerlich in die Irre, der ist unweigerlich auf dem Holzweg, auf dem Abweg ins Dunkle hinein.

So geht es Petrus am Karfreitag – das ist ja eine der tragischsten Stellen in der Passion: Dreimal verleugnet er, der Felsenmann, auf den Christus Seine Kirche gebaut hat, dreimal sagt er sich von Christus los, dem er alles zu verdanken hat, und den er doch auch im Grunde seines Herzens liebt. Aber jetzt, wo es darauf ankäme, sich zu Christus zu bekennen, da schämt er sich dessen, daß er zu Christus gehört, aus Menschenfurcht kehrt er sich von Christus ab. Der heilige Pfarrer von Ars sagt einmal: Die Verleugnung Jesu geschieht bei den meisten Menschen nicht durch Worte, sondern dadurch, daß sie nicht tun, was Er sagt. Wir verleugnen unseren Herrn dadurch, daß wir dann, wenn es darauf ankäme, nicht nach Seinem Gebot und nach Seinem Wort handeln, sondern uns anpassen an das, was von uns vielleicht erwartet wird, anpassen an das, was gerade allgemein angesagt ist. Wir verleugnen Christus, wenn wir, wie Petrus am Karfreitag, das Kreuz Christi scheuen, das heißt, wenn wir uns in dem Moment aus der Nachfolge Jesu herausstehlen, wenn es unangenehm wird, wenn es etwas kosten würde, uns Nachteile und Opfer abverlangen würde. Das Kreuz ist und bleibt der Ernstfall des Glaubens, der Ernstfall der Nachfolge Christi. Es ist leicht, zu glauben, solange der Glaube für uns Trost und Bestätigung bedeutet und schöne Gefühle bringt. Es kommt aber darauf an, auch die Herausforderung des Christseins anzunehmen, wenn uns der Glaube nötigt, einmal über unseren Schatten zu springen, etwas zu tun, was nicht angenehm ist, uns zu überwinden. Und jeder muß sich auch einmal fragen: Läßt sich an meinem Leben eigentlich auch ablesen, daß ich zu Christus gehöre, unterscheide ich mich in meinem Lebensstil von einem Ungläubigen, von einem Atheisten, von einem Nichtgetauften? Oder bin ich vielleicht nur dem Namen nach Christ, der sich ansonsten mit dem Strom mittreiben läßt und kein Haar anders lebt als der große Haufe.

Liebe Gläubige, im Zentrum dieser Karfreitagsliturgie steht die Kreuzverehrung. Nehmen wir das heute einmal ernst, was wir da tun. Wenn wir nachher das Kreuz verehren, vor dem Gekreuzigten das Knie beugen, dann soll das auch ein Ausdruck unserer inneren Haltung sein, ein Bekenntnis: Ich will bei Christus, dem Gekreuzigten bleiben, Er ist die Wahrheit, Er ist meine Hoffnung, Ihm will ich nachfolgen nach bestem Wissen und Gewissen, in guten und in bösen Tagen. Zu diesem Vorsatz gebe uns der Herr am heutigen Karfreitag Seine Gnade und Seinen Heiligen Geist. Amen.