Befreit von der Angst vor dem Tod

Predigt zum Ostersonntag (Joh 20,1-9)

„Sie wussten noch nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste“.
So heißt es am Schluss des heutigen Osterevangeliums über die Apostel Petrus und Johannes (Joh 20,9). Sie rechneten nicht mit der Auferstehung ihres Herrn. – Warum eigentlich nicht? Hatte er es ihnen nicht oft genug vorausgesagt?

„Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf, dort wird der Menschensohn den Hohepriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert. Sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Römern übergeben, damit er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird, aber am dritten Tag wird er auferstehen“.
Das sagte Jesus kurz vor dem Einzug in Jerusalem, vor dem Palmsonntag (Mt 20,17-19). Es war bereits die dritte Ankündigung seines Kreuzestodes und seiner Auferstehung. Die Jünger hörten das, aber sie verstanden es offensichtlich nicht, ja: sie wollten es vielleicht auch gar nicht verstehen.
Wieso verspotten, geißeln, zum Tod verurteilen, kreuzigen?  Jesus ist doch der Messias. Er hat doch die Macht. Er kann Kranke heilen, dem Sturm gebieten, Tote auferwecken. Er könnte doch jetzt in Jerusalem das Königreich Davids wiederherstellen, die Römer aus dem Land werfen und dann das Brot vermehren – und Wohlstand für alle herbeiführen. Das ist die Erwartung der Jünger. Deshalb auch ihr trauriges Versagen am Karfreitag. „Wir lassen dich nie allein!“, versichern sie noch beim  Letzten Abendmahl. Aber  kaum, dass die Soldaten Hand an den Herrn legen, verlassen ihn alle und fliehen (Mk 14,50).

Nein, die Jünger haben nicht viel verstanden und keine gute Figur gemacht – bis zu dem Moment, als der Auferstandene in ihr Leben tritt. Das leere Grab am Ostermorgen: das ist der erste Paukenschlag, der die Jünger aufweckt, der Anfang der Wende. Petrus versteht immer noch nicht. Aber wenigstens Johannes geht ein Licht auf: Jesus lebt. Das Grab hat ihn nicht halten können. Petrus und die anderen brauchen noch mehr, noch intensivere Interventionen. Christus muss ihnen persönlich gegenübertreten, mitten unter ihnen erscheinen: dort wo sie sich aus Angst vor den Menschen verbarrikadiert haben. Sie müssen seine Seite und seine Wundmale sehen, ihn anfassen. Und jetzt erst gehen den Jüngern die Augen auf, und sie begreifen: „Der Messias musste all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen“ (Lk 24, 26) und sie selber verwandeln sich, bekommen ein völlig neues Lebensgefühl. – Keine Angst mehr vor den Menschen, kein Zurückweichen mehr vor Schmerz und Gefahr, vor Leid und Tod.
Und sie sind plötzlich zu Erstaunlichem fähig, die früheren Angsthasen. Weil sie allzu freimütig in Jerusalem predigen, lässt der Hoherat Petrus und Johannes festnehmen und auspeitschen. Sie aber, so berichtet die Apostelgeschichte, „freuten sich, dass sie gewürdigt wurden, für den Namen Jesu Schmach zu erleiden“ (Apg 5,41).
An dieser Verwandlung der Jünger wird uns deutlich, was Glaube an die Auferstehung heißt:
Den Tod – und alle seine Vorboten – nicht mehr fliehen müssen.

Unsere Welt – die ganze moderne, hochentwickelte, technisierte Welt – hat Angst, bodenlose Angst: vor dem Tod und allen seinen Erscheinungsformen:  Leiden, Krankheit, Alter, Misserfolg, Niederlage, Abstieg, Schmerz… Leben heißt:  immer auf der Hut sein vor dem Tod, immer ausweichen, immer fliehen, immer verdrängen – und wenn das nicht mehr reicht: bekämpfen um jeden Preis – auch wenn ich weiß, dass ich am Ende immer der Verlierer bin.
Im Hebräerbrief heißt es: Christus hat den Tod auf sich genommen, „um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Sklaverei verfallen waren“ (Hebr 2,15).
Die Furcht vor dem Tod macht zum Sklaven. Wir wollen fliehen. Aber der Tod klebt an uns – wie unser Schatten. Da kann ich auswandern ans andere Ende der Welt: der Todesschatten verfolgt mich. Und wenn ich mich dem Joggen und Walken und dem Gesundheitskult verschreibe: der Tod bleibt an mir dran. Ich kann mich in meine kleine heile Welt zurückziehen: der Tod nistet sich mit mir ein.

Davon – sagt die Schrift – befreit nur einer: Christus. In der Gemeinschaft mit ihm dürfen wir wie die Jünger nach Ostern als neue, als freie Menschen leben in der Freiheit der Kinder Gottes.
Und das heißt konkret: Wenn das Kreuz auf mich zukommt, das, was mein jetziges Leben durchkreuzt, dann brauche ich nicht Panik bekommen, nicht fliehen, nicht ausweichen; dann kann ich es annehmen – im Vertrauen, dass es so sein muss und dass durch das Kreuz das Größere, das Leben Christi kommt.
Ich weiß nicht, ob Sie diesen Gedanken mitvollziehen können. Aber die Spur stimmt ganz bestimmt. Es ist der Weg, den Jesus uns vorausgegangen ist.

Begreifen mit dem Kopf ist das eine. Aber es muss im Herzen ankommen. Und das ist bekanntlich ein weiter Weg… Hier helfen konkrete Begegnungen mit Menschen, die die Freiheit und das unbesiegbare Leben des Glaubens ausstrahlen. Bei dem vietnamesischen Erzbischof Franz-Xaver Nguyen, der sein halbes Leben in Straflagern des kommunistischen Regimes verbringen musste, las ich den Satz:  „Je älter die Heiligen werden, desto jünger und frischer wird ihr Herz“.
Solchen Menschen können wir begegnen. Die alt sind oder krank, die vom Leben nicht bevorzugt wurden und dennoch eine Jugendlichkeit und Frische ausstrahlen, die man nicht erklären kann. „Wir alle kennen Menschen, von denen etwas ausgeht wie frisches Quellwasser“, sagte Papst Benedikt XVI. in der Osternachtfeier 2009. – Das kann das Leben des Christen sein – und wir selber sollen es so erfahren dürfen. – Dass die Jahre kommen und gehen, dass wir mit manchen Schwierigkeiten und Widrigkeiten zu kämpfen haben und trotzdem uns nicht verbrauchen und nicht müde werden und nicht abstumpfen. Und wenn wir das an uns erleben – das ist Erfahrung von Gnade – dann haben wir die begründete Hoffnung, dass der Tod einst nichts anderes sein wird als das Neugeborenwerden zum ewigen Leben.
Welche Perspektive. Welcher weite und freie Horizont. Wo finden wir das – außer bei Jesus Christus?

Deshalb feiern wir Ostern, das Fest der Auferstehung. Und deshalb müssen wir danken: jeden Tag und in jeder Eucharistie. Hier fließen die Quellen, aus denen sich das Leben der Gnade nährt. Darum dürfen wir uns nicht fernhalten, sonst wird unfehlbar wieder der Schatten größer, der Schatten des Todes.
Hier zieht uns Christus, der Herr, der Lebendige zu sich – immer wieder.
Hier deckt er uns armseligen Gästen seinen Tisch des Wortes und des Brotes.
Hier will er Mahl mit uns halten – wie einst mit den verängstigten Jüngern nach seiner Auferstehung. Hier reicht er uns das Brot des Lebens.
Hier danken wir ihm, dem aller Dank gebührt in Zeit und Ewigkeit.