Auf dich kommt es an

Predigt zu meinem Silbernen Priesterjubiläum 2015

Es war der 30. Juni 1990, als der damalige Bischof und heutige Kardinal Walter Kasper mich und zwanzig weitere Diakone in der gewaltigen Barock-Basilika Weingarten zu Priestern weihte. Acht Tage später, am 8. Juli 1990, feierte ich meine Primiz, meine erste Heilige Messe in meiner Heimatgemeinde St. Michael in Tübingen. Ich freue mich, dass einige, die damals bei der Primiz dabei waren, auch heute mein Silbernes  mitfeiern.
Als ich vor einigen Wochen mit den Ministranten unserer Gemeinden in Rom war, traf ich nach vielen Jahren wieder einmal mit Walter Kasper zusammen. Er feierte mit unserer Gruppe eine Messe im Petersdom. Ein weiterer Höhepunkt dieser Romreise war die Begegnung mit dem emeritierten Papst Benedikt im Vatikan. Als 1997 meine Dissertation über Hugo Rahner erschien, war er angetan von diesem Buch. In den folgenden Jahren durfte ihn immer wieder treffen. Dieses Mal fragte er mich: „Wieviele gibt es denn zur Zeit im Priesterseminar Rottenburg?“ Ich musste ihm antworten: „Heiliger Vater, meines Wissens ist es nur einer, der sich auf die Weihe im nächsten Jahr vorbereitet“. Der emeritierte Papst schaute betroffen.

Wir Weihekandidaten des Jahres 1990 waren noch 21.
Viele Priester legten uns damals im Anschluss an Bischof Walter  Kasper und Kardinal König, der auch anwesend war, die Hände auf, auch die Mönche vom Kloster Weingarten, das es ja nicht mehr gibt.
Die Statistik sagt: Im Jahr 1990 gab es 295 Neupriester in ganz Deutschland. 20 Jahre später (2010) waren es noch 81. Ein Rückgang um 73 %. Eine Trendwende zeichnet sich nicht ab. Insofern wird ein Fest wie heute, ein 25jähriges Priesterjubiläum in Zukunft Seltenheitswert haben.
Was sind die Ursachen? – „Das böse Zölibat ist schuld“, meinen viele.   Wirklich? Ich glaube, so einfach liegen die Dinge nicht. Wenn ich zum Beispiel unlängst lese: „Auch bei den Protestanten, die kein Zölibat kennen, sinken die Bewerberzahlen für das Pfarrer-Amt. Gab es 1991 bundesweit noch 1087 Ordinationen, so vermeldete die evangelische Kirche in Deutschland 2009 nur noch 266 Neu-Pfarrer.“ Das ist ein Rückgang um 75 % und insofern noch etwas stärker als bei den katholischen Neupriestern.
Wir müssen schon ein bisschen tiefer bohren bei der Ursachenforschung. Und dann geht uns auf: Es gibt ja nicht nur einen Einbruch bei den Pfarrern, es gehen uns ja überall in der Kirche die Leute aus.
1990 im Jahr meiner Priesterweihe lag der sonntägliche Kirchenbesuch bei 20% der Katholiken. Heute liegt er bei unter 10%. In den fünfundzwanzig Jahren meines Priesterlebens musste ich die allmähliche Halbierung der Gottesdienstgemeinden erleben – und das trotz aller Bemühungen um eine feierliche Liturgie und eine vernünftige Predigt. Das ist es, was den Pfarrerberuf so schwer macht, diese (ich sage einmal vorsichtig) scheinbare Erfolglosigkeit.

Woran liegt´s? Sind die heutigen Menschen schlechter als frühere Generationen? Ganz bestimmt nicht. Aber die Zeit ist eine andere, die Welt ist eine andere. Ich glaube, das können alle bestätigen, die die Lebensmitte hinter sich haben.
Die Welt unserer Kindheit und Jugend war eine andere. Und ich bin froh, dass ich sie kenne. Es war ganz bestimmt keine heile Welt. Das gibt es nie. Aber es war anders, es war alles viel bescheidener und einfacher als heute, aber menschlicher. Und es war eine Welt, in der es noch selbstverständlich Platz für Religion, Kirche und Glaube gab. Und den gibt es heute einfach meist nicht mehr.
Das Leben ist so angefüllt mit allem möglichen, ja geradezu vollgestopft – mit Aktivitäten, Hobbys, Veranstaltungen, Reisen, Party, Internet, Smartphone; dazu die wachsende Beanspruchung in Berufsleben und Schule. Der Mensch ist pausenlos beschäftigt und rund um die Uhr unterhalten: da bleibt einfach kein Platz mehr für Kirche und Gottesdienst. Die Verhältnisse erlauben es nicht.

Wenn ich meine Kinder im Religionsunterricht der dritten Klasse anschaue, die sind so offen für den Glauben und begeisterungsfähig, wie man es sich nur wünschen kann. Und dann ergreift mich Wehmut, wenn ich weiß: Schon bald wird euch die Welt nicht mehr erlauben, so zu sein, schon bald wird sie euch „verschlucken“ mit Haut und Haar, völlig vereinnahmen. Und Gott und die ganze reiche Welt des Glaubens, die euch heute so fasziniert, wird euch immer ferner rücken und allmählich in Vergessenheit geraten.
Vielleicht ist es ja dieses Jahr anders; ich lass mich gern eines Besseren belehren, aber meine bisherige Erfahrung ist eben oft so gewesen.

Das ist die Situation, in die wir gestellt sind. Man nennt es die „säkularisierte“ Welt, die entkirchlichte Welt. Von ihr spricht übrigens auch Papst Franziskus, in seiner jüngsten, bahnbrechenden Ökologie-und Sozialenzyklika „Laudato si“: „Die Menschheit hat sich tiefgreifend verändert. Die Fülle an ständigen Neuerungen bringt eine Flüchtigkeit, die uns über die Oberfläche in eine einzige Richtung mitreißt. Es wird schwierig für uns, innezuhalten, um die Tiefe des Lebens wiederzugewinnen“.
Es wird schwierig für uns, sagt der Papst. Ja, es ist schwierig für uns in der Kirche unter diesen Bedingungen. Und wir müssen das wissen, damit wir nicht permanent enttäuscht sind oder in einen blinden Aktionismus verfallen, der auch nichts bringt.

Nun gehört zu dieser Situation, in die wir gestellt sind, aber auch noch ein anderer Aspekt, der mir gerade in letzter Zeit immer deutlicher wird. – Heute kommt es mehr als je zuvor auf den Einzelnen an, den einzelnen Mann, die einzelne Frau, den einzelnen Jugendlichen, der gegen den Strom schwimmt, der trotzdem den Weg des Glaubens geht, egal was der große Haufe macht.
Jesus sagt einmal im Evangelium: „Bei den Engeln Gottes herrscht Freude über einen einzigen Menschen, der umkehrt“ (Lk 15,10).
Die Engel freuen sich also nicht erst, wenn Tausend den Weg des Glaubens einschlagen, oder wenn Hundert umkehren, sie freuen sich über einen Einzigen.
Der Himmel scheint nicht auf die Zahl zu schauen. Diesen Blick des Himmels auf den Einzelnen, der trotzdem kommt, der anders ist als die vielen, diesen Blick und diese Freude über den Einzelnen müssen auch wir lernen. Und wenn ich selbst zurückschaue in dieser Perspektive, dann entdecke ich viele solche einzelne Glaubende, die mich beeindruckt haben im Laufe der Jahre.
Es gab – und es gibt sie – unter Jungen und Alten, unter Kindern und Jugendlichen, unter jungen Erwachsenen ebenso wie unter Hochbetagten, unter Wohlhabenden und Armen, unter Gebildeten und Einfachen, unter Gesunden und nicht zuletzt unter Kranken. Wenn ich etwa an jenen tödlich erkrankten Mann denke, der mir sagte: „Ich bin meiner Krankheit dankbar“. Dankbar deshalb, weil ihn die Krankheit näher zu Gott brachte.

Das sind die starken Glaubenszeugnisse, auf die es ankommt und die mehr zählen als die Gleichgültigkeit vieler. So birgt gerade die heutige Glaubenskrise eine besondere Chance für jeden von uns. – Ich darf mir sagen: Auf mich kommt es an, der Himmel zählt auf mich.
Der unvergessene Pater Kunibert vom Palmbühl pflegte zu sagen: „Ich zähle jeden Mann in der Kirche für zehn“. Ich würde sagen: Heute zählt jeder Mann und jede Frau für fünfzig, ja für hundert…
Gott braucht uns, sein Volk, in dieser Zeit und in diesem Land, – und weil wir nicht mehr so viele sind, kommt es umso mehr auf mich persönlich an: dass ich dabei bleibe, dass ich nicht aufgebe, dass ich mutig Flagge zeige, dass ich mein Licht leuchten lasse vor den Menschen.
Und wenn viele Einzelne zusammenkommen, auch über Gemeindegrenzen hinaus, dann sehen und erleben wir, dass wir immer noch etliche sind. Und dass wir immer noch Großes auf die Beine stellen können.

So hoffe ich, dass von diesem Jubiläum heute, von diesem Fest des Glaubens jeder und jede Einzelne gestärkt und ermutigt nach Hause kommt. Dass wir wieder von Herzen dankbar dafür sind, dass Gott uns gerufen hat, mich und dich ganz persönlich.
„Mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen“ sagt der Apostel Paulus (2 Tim 1,9). Und Petrus, der andere der beiden Apostelfürsten ruft uns zu: „Verkündet die großen Taten dessen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat“ (1 Petr 2,9).

Amen.