Was wir am Volkstrauertag lernen

Predigt zum 33. Sonntag im Jahreskreis C (Lk 21, 5-19)

Der Tempel in Jerusalem zählte zu den imposantesten Bauwerken der Antike. Es muss dieser Tempel ein überwältigender Anblick gewesen sein, riesenhaft in seinen Ausmaßen, prachtvoll im Glanz seiner weißen Marmorsteine. Man sagte: „Wer nicht Jerusalem in seiner Herrlichkeit gesehen hat, der hat sein Lebtag keine Freude gesehen. Wer nicht das Heiligtum in seiner Ausführung gesehen hat, der hat niemals eine liebliche Stadt gesehen.“
Jesus allerdings sieht den Tempel mit anderen Augen: „Von allem, was ihr hier seht, wird kein Stein auf dem anderen bleiben; alles wird niedergerissen werden“ (Lk 21,6).
Er sieht das, was schon bald kommen wird: die völlige Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer im Jahr 70 und die Vertreibung des jüdischen Volkes aus dem heiligen Land.

Kein Stein blieb auf dem anderen, alles wurde niedergerissen – das kann man auch als Fazit unter die  Ereignisse schreiben, deren wir heute am Volkstrauertag gedenken, besonders im Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Da war ein sogenanntes „Drittes Reich“ aufmarschiert, anmaßend und großmäulig: „Heute gehört uns Deutschland – und morgen die ganze Welt!“
Viele, allzu viele hatten sich mitreißen lassen von der „neuen Zeit“, marschierten mit im großen Haufen, bis dann die Quittung kam, die man eigentlich sehr wohl hätte voraus sehen können: eine Schreckensherrschaft und ein schrecklicher Krieg! Millionen von Gefallenen und im Bombenhagel Umgekommenen, Millionen von Witwen und Waisen, von Flüchtlingen und Vertriebenen, Millionen von unschuldigen Opfern in Konzentrationslagern, ein Meer von Blut und Tränen.
Daran sollen wir uns heute am Volkstrauertag erinnern, in Trauer erinnern.
Warum? – Aus zwei Gründen. Um der Toten willen und um unserer eigenen Zukunft willen.
Wie viele Männer sind aus diesem Krieg nicht mehr heimgekommen. Wir können ja ihre Namen auf den Gedenktafeln der Friedhöfe lesen, und wir sollten es auch einmal wieder ganz bewusst tun. Damit wir erkennen, welche Tragödie geschehen ist. Ganze Jahrgänge junger Männer sind in Deutschland ausgelöscht worden und fehlen seitdem nicht nur ihren Familien, sondern der ganzen Gesellschaft. Diese Toten haben es nicht verdient, dass wir sie vergessen. Sie haben verdient, dass wir an sie denken und für sie beten.
Aber auch für uns selbst ist diese Erinnerung wichtig. Damit wir etwas aus ihr lernen. Es könnte ja einer sagen: >Was gehen mich die alten Geschichten an? Ich lebe doch heute. Und mir geht’s gut.<
Das ist schon wahr. Es geht uns gut. Wir leben im Wohlstand, in einem Überfluss, von dem frühere Generationen nicht zu träumen gewagt hätten. Ja, materiell fehlt es vielen an nichts. Aber: reicht das? Werden wir damit allein wirklich bestehen können?

2004 erregte der Film „Der Untergang“ Aufsehen. Der Film schildert die letzten Tage Hitlers im Führerbunker in Berlin und das Ende des Dritten Reiches. Wie da das Regime am Schluss sich selbst zerstört und das ganze Volk mit in den Untergang hinabreißt – das sind erschütternde Szenen. Da stellt sich die Frage: Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Interessant ist, was der Regisseur des Filmes, Oliver Hirschbiegel, auf diese Frage antwortet:
“Das Dritte Reich zeigt eine Ideologie, der nichts mehr heilig ist, bei der es keine Grenze gibt. Alles, was nützt, ist Recht. Sowohl auf der moralischen, als auch auf der rechtsstaatlichen Ebene gibt es keinerlei Grenzen mehr. Alles, was man Jahrhunderte lang erlernte, erkämpfte und auch lebte, wurde pulverisiert
“.

Wenn es so steht, wenn das die Ursachen für den Untergang Deutschlands waren, dann müssen wir uns fragen: Was wird auf uns noch zukommen?
Denn das hat doch erschreckende Ähnlichkeit zum Zeitgeist von heute…
Die Väter des Grundgesetzes schrieben in die Präambel unserer Verfassung ausdrücklich die „Verantwortung vor Gott“ hinein. Sie hatten erlebt, was ein Staat ohne Gott bedeutet, und wie er endet. Genau diese Verantwortung vor Gott und seinen Geboten ist das Entscheidende, im Leben des Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft. Nur in dieser Verantwortung vor Gott ist garantiert, dass die Würde jedes Menschen unantastbar bleibt, auch die des behinderten Menschen und des alternden und des ungeborenen. Nur in dieser Verantwortung vor Gott ist garantiert, dass keine weltliche Instanz, kein Gremium und auch keine Mehrheit plötzlich neue Maßstäbe für gut und böse erfindet und die Gewissen der Menschen korrumpiert.
Hoffen wir, dass diese Lehre aus der Geschichte nicht völlig vergessen wird. Und bemühen wir uns persönlich in unserem Leben nicht nur um Wohlstandsmehrung, sondern um eine bewusste geistige und  religiöse Ausrichtung. – Das wäre die wichtigste Zukunftsvorsorge.

Amen.