Langsamkeit gegen den Tod
Vom Umgang der Christen mit ihren Toten und moderne Entsorgungsmethoden
Matthias Claudius widmete seine „Sämtlichen Werke des Wandsbekker Boten“ dem Tod. Das Titelbild zeigt, in Kupfer gestochen, das bekannte sensetragende Skelett mit der Unterschrift „Freund Hain“. Das Bild samt dem Titel entspricht genau der zwiespältigen Empfindung, die das Wort „Tod“ in uns auszulösen pflegt: Vertrautheit und Schrecken. „`s läuft mir, die Wahrheit zu sagen, jedesmal kalt über`n Rücken, wenn ich Sie ansehe“, schreibt Claudius in seiner Widmung. „Und doch will ich glauben, dass Sie`n guter Mann sind, wenn man Sie genug kennt….“
Dieselbe Doppelgesichtigkeit sagen ihm die Sprichwörter nach: Er ist der Sensen- und Knochenmann, aber auch Prediger, Freund, Gevatter und Arzt. Er scherzt nicht und fragt nicht, er nimmt, holt, frißt, gibt nichts zurück, aber ebenso hilft und heilt er und zahlt alle Schulden.
Der Tod ist Freund und Feind in einer Person, Shakespeare nannte ihn ein „zweites Ich“, Burns „The poor man`s dearest“, Goethe ignorierte ihn: „Den Tod statuiere ich nicht.“ Er weigerte sich, das Sterbezimmer seiner Frau zu betreten. Claudius scheint mir in diesem Punkt der Klügere zu sein: „… wenn man ihn lange ansieht, wird er zuletzt ganz freundlich aussehen“, fährt er in seiner Widmung fort.
Das heißt soviel wie: Zeit für ihn haben, ihm Platz machen im inneren Haushalt, ihn gelassen betrachten, wenn er ins Blickfeld kommt, und möglichst lange. Dann kann es sein, dass er zum Freund wird. Feind bleibt er, solange er sich diesen Platz erzwingen muß. Kommen wird er so oder so.
Ansehen läßt sich der Tod, wo gestorben wird: in den Betten von Todeskandidaten, auf ihren Gesichtern, nachdem sie gestorben sind, in den Stunden und Tagen danach, wenn wir sie nicht sofort wegschaffen lassen, bei den Zeremonien, die ihr Grab umgeben, wenn wir sie tätig begleiten. Dann „wird er zuletzt ganz freundlich aussehen“. Oder, um es zeitgemäß auszudrücken: Der Aufwand für den Sterbenden oder Verstorbenen dient der Bewältigung des eigenen Todes.
Als Claudius seine Widmung schrieb, fand alles, was das Sterben betraf, noch innerhalb der Familie statt. Heute ist der Gevatter in den professionellen Händen der Krankenhäuser, Altersheime und Bestattungsinstitute. Das Sprichwort „Dem einen sein Tod ist dem andern sein Brot“, das früher allenfalls auf den Sargtischler und den Totengräber zutraf, gilt heute für eine umfangreiche Bestattungsindustrie. Die Hinterbliebenen haben nur noch in Katalogen zu blättern und ihre Wünsche für das Arrangement der Bestattung zu äußern.
Bei alledem hat es den Anschein als zöge der Tod sich zurück. Es wird diskreter gestorben. Man braucht Jahrzehnte lang keinen Toten mehr zu sehen – außer im Fernsehen. Da läßt sich der Tod, echt oder gespielt, mehrmals an einem Abend konsumieren. Aber das ist nicht dasselbe. Für seine Freundschaft verlangt er die hautnahe Begegnung, das Auge-in-Auge. Ich kenne Menschen, die eine solche Begegnung hinter sich haben, die einen Sterbenden bis zur Erschöpfung pflegten. Kurz danach wirkten sie gestärkt, geradezu verjüngt. Aber solche Gelegenheiten scheint es nicht oft zu geben. In welcher Wohnung betritt man ein Sterbezimmer? Wo werden verhüllte Bahren aus Häusern getragen? Ganz früher sah ich noch einmal zwei Rappen im Schritt die längliche Kutsche über die münstersche Promenade ziehen. Aber da gab es schon längst die schwarzglänzenden Autos mit den silbrigen Palmzweiggravuren. Sie brachten mit ihrer Langsamkeit den Verkehr ins Stocken, ganz im Sinn ihres wahren Auftraggebers und seiner Parole: „Meine Zeit ist nicht eure Zeit!“ Heute sind Totenautos nicht mehr zu unterscheiden, und sie fahren genau so schnell wie alle andern.
Hein hat sich zurückgezogen, sogar auf dem Friedhof, seinem ureigenen Zuhause. Da wird immer mehr Platz gespart. Dicht gedrängt beieinander liegen die Urnengräber, klein und quadratisch, weder der Form noch ihrem Inhalt nach menschlich, wie gemacht als posthume Zimmerchen für die Apartmentbewohner aus den benachbarten Wohnblocks.
Die große Wiese am äußersten Rand des Geländes sieht aus wie ein freies Terrain für künftige Gräber. Ganz im Gegenteil, sagt der Friedhofsgärtner. Nirgends liegt unter der Erde so viel wie hier, nur man sieht es nicht mehr, weiß nicht mehr, wo einer liegt, spart sich das Grab und all das Drumrum – wozu auch ? – kommt ja bald doch keiner mehr, den`s interessiert, sieht aber immer gut aus, wird regelmäßig gemäht. Wenn der Schuppen voll ist mit Urnen, wird wieder gegraben. Ist noch`ne Menge Platz. Ist`ne billige Art zu verschwinden. Kann ich empfehlen. Offiziell heißt das, was der Gärtner empfiehlt, „Anonymes Gemeinschaftsgrab“ oder volkstümlicher: „unter dem grünen Rasen“. Dieser kindliche Pleonasmus – man denkt an die „drei Hasen“, die „das grüne grüne Gras abfraßen“ – und die Rasenkosmetik machen nicht sofort begreiflich, dass hier etwas getan wird, das man in Kriegs, Pest- und KZ-Zeiten tat. Aber ein Platz im Massengrab kann einem Hinterbliebenen, der möglichst wenig vom Erbe für die Pietät abzweigen und im Übrigen schnell vergessen möchte, nur recht sein.
Wer im alten Athen ein öffentliches Amt bekleiden wollte, mußte nachweisen, dass er die Gräber seiner Vorfahren pflegte. Nicht, weil man sehen wollte, ob er ein ordentlicher Mensch war, sondern weil das Gemeinwesen, dem er vorstehen sollte, aus Lebenden und Toten bestand. Wie kann man ohne Erinnerung weise regieren? Kultur ist Gedächtnis!
Was sollen die teuren Begräbnisse, sagt der ökonomisierte Zeitgenosse, die Toten haben nichts mehr davon. Kann sein, die Toten haben nichts mehr davon – so ungefähr sagt Seneca in anderem Zusammenhang -, aber wer bist du, lieber Hinterbliebener, dass du so mit ihnen umgehst?
Oder haben wir es mit einer neuen Form von Bescheidenheit zu tun, die den Großvater plötzlich bewogen hat, sein anonymes Vergrabenwerden selbst anzuordnen und womöglich hinzuzufügen, man möge kein Umstände mit ihm machen und ihn rechtzeitig euthanasieren? Aber das ist ein anderes und noch ernsteres Kapitel.
Wie werden in Zukunft die Friedhöfe aussehen? Wird es diese schattigen Plätze noch geben, die unentbehrlichen Hintergründe im Gedächtnis aller leidenschaftlichen Leser, Orte dunkler Verschwörung, Wohnstätten von Vampiren, wo bei Vollmond um Mitternacht irgendein Zauberer wirkt – stille Inseln bei Tage, wo freundliche Witwen einander mir Harke und Gießkanne helfen?
Vielleicht wird man, wenn der Boden weiter im Preis steigt, die Friedhöfe zu Freizeitanlagen nach amerikanischem Muster umgestalten oder zu „Parks of Memory“ voll kleiner Happenings mit Lichtschranken, die an den Gräbern Videofilme auslösen oder Tonbändern mit der munteren Stimme des Verstorbenen. Oder mit Grabsteinen als Werbegags, deren Inschriften mitteilen, welches Produkt der Verstorbene zu Lebzeiten besonders schätzte. Vielleicht kehren die Zeiten wieder, in denen Friedhöfe nicht nur Orte der Trauer waren. Spätgermanische Grabtafeln zum Beispiel reden durchweg vom glücklichen Leben und glücklichen Sterben. Die bunt bemalten schmiedeeisernen Kreuze der Barockzeit erzählen von Stand und Gewerbe der Verstorbenen, von ihren Krankheiten und von ihrer Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung. Man liest dort Kernige, manchmal auch witzige Verse. Warum sollte man heute nicht etwas Ähnliches versuchen, um den wortkargen polierten Marmor des letzten Jah rhunderts endlich hinter sich zu lassen? Eine Firma in Norddeutschland wirbt für grellbunt mit Lebenssymbolen bemalte Särge. Beginnt hier eine neue Phase der Grabesheiterkeit? Aber woher bekommt man die dazugehörige neue Hoffnung?
Ich bin einmal Zeugin einer Friedhofsszene gewesen, über der eine stille und ganz ungekünstelte Heiterkeit lag. Das war 1982, an den lehmigen Ufern des Rio Guaporè, der Grenze zwischen Brasilien und Bolivien, einer Gegend, die selbst den meisten Brasilianern das Ende der Welt bedeutet. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: Heute sind Lebende und Tote zusammen eine große Familie. Draußen vor dem Friedhof wird Bohnensuppe gekocht. Man löffelt sie aus den Schalen der Cuiafrucht. Es gibt Stände mit Bonbons, Kerzen und Popcorn. Es wimmelt von Menschen. Alle sind mit ihren Gräbern beschäftigt. Es ist drei Uhr nachmittags. Unter strahlendem Himmel ein Lichtermeer. Die Gräber bestehen aus je einem Viereck von blaugestrichenen Latten um einen Lehmhügel herum. Sie sehen aus wie Sandkästen. Im Sand stecken die Kerzen. Kinder formen Männchen und Kugeln aus dem warmen Stearin. Um die Gräber liegen verstreut leere Kerzenkartons, Pinsel und Büchse n mit blauer Farbe. Die meisten Latten sind für den heutigen Tag frisch gestrichen worden. Das Holzkreuz am Kopfende des Verstorbenen ist mit bunten Papierblumen geschmückt. Der Friedhof sieht aus wie ein großer Kindergeburtstag. Mehr als die Hälfte sind Kindergräber. So viele lebendige Kinder in den Straßen, so viele tote auch hier. Die Geschwister knien um ihr kleines Grab. Es ist von einem hohen hellblauen Lattenzaun eingefriedet, so als hätte man dem toten Kind ein Laufställchen gebaut. An den Latten Kränze aus rosa und weißen überlebensgroßen Blumen. Die Stimmung ist heiter. Man verkehrt freundlich mit dem Tod. Auf dem Rückweg machen wir einen Abstecher an den einsamen Fluß. Am Ufer sitzen zwei junge Männer, umgeben von hunderten von brennenden Kerzen. Auch hier? fragt Geraldo. – Ja, gerade hier sind so viele ertrunken im letzten Jahr. Zwei Kinder beim Spielen, zwei Leute beim Fischen und eine junge Frau, die nur auf Besuch da war aus Belo Horizonte. – Ob die mit einem von ihnen verwandt war, will Geraldo wissen. – Sie schütteln die Köpfe. Sie zünden die Kerzen an, einfach so. Schließlich ist Allerseelen.
Die ersten Krematorien Deutschlands sahen aus wie Moscheen oder Kathedralen oder wie etwas Drittes, undefinierbar Protziges. Die Feuerbestattung war von eigens zu diesem Zweck gegründeten Vereinen erkämpft worden, meist unter Berufung auf hygienische Gründe, die in einem langen Hin und Her mit den Gegnern entkräftet und dann wieder behauptet wurden. Im Grunde war es ein ideologischer Kampf, der sich vor allem gegen den christlichen Glauben und das Begräbnismonopol der Kirche richtete. Nachdem Friedrich Siemens 1878 den Verbrennungsofen erfunden hatte, war es endlich möglich geworden, den Leichman der reinigenden Flamme statt den Würmern zu übergeben.
Wie wir aus Indien wissen, ist die Verbrennung eines Toten ein aufwendiger, lang dauernder Prozeß. Der Scheiterhaufen muss hoch und mit duftenden Kräutern und Essenzen vermischt sein. Der Leichnam verbrennt unter Gebeten und Gesängen und fortwährendem Nachwerfen von Brennmaterial in Anwesenheit eines Priesters und der ganzen Familie. Das kann, je nach Wind und Wette, einen ganzen Tag und noch eine Nacht dauern. Von so etwas hatten vermutlich die Promotoren der Feuerbestattung seit hundert Jahren geträumt. Was sie statt dessen bekamen, war ein mechanisch funktionierender Ofen, eine immer weiter perfektionierte Maschine, die den Verstorbenen unter Ausschluß der Öffentlichkeit in anderthalb Stunden bei tausend Grad Hitze vernichtet.
Die Feuerbestattung hat bis heute ihren Täuschungscharakter behalten. Ein Krematorium hat bereits in seiner Bauweise Ähnlichkeit mit dem Theater. Beim einen wie beim anderen sind zwei Häuser verschiedener Bestimmung miteinander verbunden. Dem Zuschauerhaus des Theaters schließt sich das der Öffentlichkeit unzugängliche Bühnenhaus an, so wie sich den Feierhallen und Abschiedszellen der Krematorien das Entsorgungshaus anschließt. Dabei dienen die jeweiligen Vorderhäuser der Illusion, während sich in den Gebäuden dahinter normaler Arbeitsalltag abspielt.
Bei seiner Abschiedsvorstellung ist der Tote aufgebahrt zwischen Blumen und Bäumchen und oft, gleich dem Schauspieler, geschminkt. Bei dem kurzen Blick auf den Verstorbenen, der ihnen gewährt ist, stellen die Trauernden fest, dass er aussieht „wie im Leben“. Dem Gesicht des Todes, das Claudius lange anzuschauen empfahl, wurde die Maske blühender Gesundheit übergestülpt. Das letzte, was der Trauergemeinde noch gezeigt wird, ist der Sarg des Toten, der, nach Abschluß der Feierlichkeiten, wie Don Giovanni in einer Versenkung oder wie von unsichtbarer Hand gezogen, von der Bühne der Versammlungshalle verschwindet.
Der Sarg müßte jetzt eigentlich in Flammen aufgehen. Wie das zugehen soll, darüber machen sich die Hinterbliebenen ein vages oder auch gar kein Bild. Man hat es ihnen nicht gesagt, und, wie mir mein Begleiter versichert, sie wollen es auch gar nicht wissen. Wir treten aus dem halbdunklen Feierraum durch eine kleine Tür und werden von hellem Arbeitslicht geblendet. Das eigentliche Krematorium ist eine blitzsaubere kleine Fabrik. Hier könnte alles Mögliche produziert werden. Das Gewirr von Röhren und Meßuhren erinnert mich an den Maschinenraum eines mittleren Ozeandampfers. Und den übereinander montierten länglichen Kästen, die fallen und steigen und sich dabei fortwährend um sich selbst drehen, sieht man nicht ohne weiteres an, was sie enthalten. Ein Krematorium ist tatsächlich eine Produktionsstätte wie jede andere. Die Knochenmühle – dieser Name umgibt den nüchternen Apparat mit einem Hauch schauriger Romantik – macht aus den R esten der Kremation, den Knöchelchen, die Asche, die dann, in Urnen abgefüllt, per Post an den Ort ihrer Bestimmung geschickt wird. Die Asche ist das Endprodukt. Ende des Jahres erscheint sie in der Statistik des nationalen Bruttosozialprodukts. Als was erscheint sie den Hinterbliebenen? Was hat die Asche mit dem Menschen zu tun, der er vor seiner Pulversierung war? Kann man an einem Urnengrab seiner gedenken? Gehört Asche nicht vielmehr in den Wind oder ins Meer – eine Idee, die bereits kommerziell genutzt wird – oder in ein unsentimentales, preiswertes Massengrab? Die Aschenpost kommt manchmal erst nach Wochen. Die Hinterbliebenen haben vielleicht den Abschied schon fast vergessen. Was ist in der Zwischenzeit mit dem Toten geschehen?
Die wollen es nicht wissen, wiederholt der Friedhofsbeamte. Die sind ja in tiefer Trauer. Denen ist ja nichts lieber als getäuscht zu werden. Und wir – damit meint er die professionellen Betreiber der Maschinerie – wir dürfen uns nichts denken. Für uns ist das bloßes Geschäft. Dem Toten wurden nach seiner letzten Vorstellung die Hände entfaltet. Er wurde vollständig ausgezogen und von einem Gerichtsmediziner auf Einwirkungen von Gewalt, zum Beispiel auf Würgemale oder Spuren von Gift, untersucht. Vielleicht wird kurz vor der Kremation noch ein Verbrechen entdeckt. Sonst bliebe der Fall für immer ungeklärt. Entblättert und allen Schmuckes beraubt, wird der Tote ins Kühlhaus gebracht. Dort wartet er, bis mit dem Feuer die Reihe an ihm ist. Und das kann lange dauern.
Uns Hinterbliebenen entgeht fast immer das Wichtigste: der Moment des Sterbens, die Zeit danach, die Totenwache, die nicht nur dem Verstorbenen, sondern auch uns selbst gilt. Denn hier zeigt uns der Tod sein Geheimnis.
Der soeben verstorbene Mensch ist fortgegangen, und doch liegt er noch da. Er sieht aus, als schliefe er nur, und doch hat er die Erde verlassen. Man kann ihn berühren, und doch ist er unerreichbar. Er gehört einer anderen Welt an, und doch meint man, ihn atmen zu sehen.
Der liegt zwischen Blumen und Kerzen, dem man die Augen zugedrückt und die Hände gefaltet hat – das ist er. Aber der, von dem man sagt, er sei in der Ewigkeit und das ewige Licht leuchte ihm – das ist auch er.
Er ist hier und gleichzeitig woanders, nah und doch weit entfernt. Er ist zugleich sichtbar und unsichtbar. Den wir vor uns sehen, ist er, und den wir nicht mehr sehen, ist auch er.
Der Verstorbene, der bislang eine einzige Person war, hat sich für kurze Zeit auf geheimnisvolle Weise verdoppelt.
Daher die Amulette der Toten aus der Steinzeit die Symbole auf ihren Grabplatten, die Speisen, die man ihnen mitgab in die unsichtbare Welt: Korn, Honig, Honigwein. Er ist schon längst ein anderer und doch noch einer von den Seinen. Um dieses Rätsel ranken sich alle Riten und Totenbräuche, alle Totenwachen und Opfer, von denen wir seit Menschengedenken wissen.
In der alten Welt gab es im Verfahren um den Tod eines Menschen nichts Ungewisses. Man wußte, was man tat, was man immer getan hatte. So wurde das Sterben des einen Vorbild für den Tod des Nächsten. Die Totenbräuche waren überall und zu allen Zeiten einander im Grunde sehr ähnlich. Ein Mensch der zwanziger Jahre in einer ländlichen Gegend, der einen Toten zu Grabe trug, hatte mit seinen Vorfahren aus der Jungsteinzeit mehr gemeinsam als mit uns Heutigen. Der Riß geht mitten durch das hinter uns liegende Jahrhundert. Bei uns wurde, zumindest in einer katholischen Gegend, wenn jemand im Sterben lag, sofort nach dem Priester geschickt. Der machte sich mit Salböl und Hostie sogleich auf den Weg ins Sterbehaus, voran ein Ministrant mit Glöckchen und Laterne. Ganz gleich, ob Tag oder Nacht, der Priester mußte auch zu weit entlegenen Höfen durch schwieriges Gelände und bei jedem Wetter.
Bei seiner Ankunft findet er das Haus voller Nachbarn. Sie beten: Ihr Engel des Lichts, verscheucht die Geister der Finsternis! Der Sterbende beichtet. Dann empfängt er die heilige Ölung und Kommunion. Der Priester betet die Sterbegebete der Kirche. Die lange Kette der Verstorbenen nimmt den Sterbenden auf. Er sieht die Wirkung des Trostes auf den Gesichtern und ist selbst ein Getrösteter.
Die Sterbekerze wird angezündet, das Sterbekreuz, einst ein Geschenk vom Paten bei seiner Firmung, ihm auf die Brust gelegt. Die Wanduhr wird angehalten, der Spiegel verhängt. Jemand läuft zum Stall, rüttelt an Türen, klopft an die Schweinekober, jagt das schlafende Vieh in die Höhe: Euer Herr ist gestorben! Der Bauer ist tot! Vor allem die Bienen erhalten Nachricht. Auf die Obstbäume malt man Kreidekreuze. Alles Lebendige wird aus der Verbindung mit seinem Herrn entlassen. Es könnte sonst ein Nachsterben geben, ein Verdorren und Kränkeln. Aufmerksamkeit gegen den Tod! Niemand darf jetzt schlafen!
Nachsterben – ein Wort, das an Aussterben oder an Waldsterben erinnert. Wir vernachlässigen den Tod. Könnte es da einen Zusammenhang geben, weil wir so hastig mit ihm umgehen? Was der Bauer für seinen Besitz befürchtet hatte, gilt das jetzt vielleicht für den gemeinsamen Besitz aller Menschen? War der Aufwand an Zeit und Mühe, den die Kinder einst für ihre verstorbenen Eltern auf sich genommen hatten, und den sie wiederum von ihren Kindern für sich erwarteten, vielleicht doch nicht, wie wir glauben möchten, eine Belastung, sondern ein Geschenk an alles Lebendige? Wer an den Tod denkt, fängt an zu leben, lautet ein Sprichwort.
Die Sterbegebete der Kirche ließen in ihrer Schönheit und Länge die Zeit vergessen. Sie führten in jenen Grenzbereich, in dem die Lebenden sich mit den Toten treffen. Unter solchen Gebeten, wohl vorbereitet, versehen und getröstet, mit geordneter Habe, mit seinen Lieben versammelt und versöhnt und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eines ganzen Dorfes – so wünschte sich der Mensch der alten Welt zu sterben.
Das Dorf erfuhr die Nachricht vom Tod eines Menschen durch Glockenzeichen. Verschiedene Intervalle kündigten an, ob eine Frau oder ein Mann gestorben war. In manchen Gegenden schlug ein weiteres Glöckchen die Zahl der vollendeten Lebensjahre. Man liebte die kleinen Zeichen der Unterscheidung. Die Welt ist nach dem Schöpfungsbericht aus Scheidung entstanden. Scheidung von Licht und Finsternis, von Nassem und Trockenem, von Fischen und Vögeln. Die alte Welt ahmte darin die Schöpfung nach. Sie ließ ihre Kulturen durch Unterscheidung entstehen.
Dem Verstorbenen schließt man sogleich Augen und Mund, um die Grimasse des Todes zu bannen. Das Fenster steht offen oder das Seelenloch, das man in manchen alten Häusern noch findet. Die Seele soll frei sein. Das Waschen der Toten ist Sorge der Nachbarn. Manch einer hat schon zu Lebzeiten vereinbart, wer ihn herrichten soll. Das Sterbehemd liegt bereit. Die Braut hat es schon in ihrer Aussteuer mitgebracht. Darüber zieht man dem Toten das Feiertagskleid oder den besten Anzug. Der Sargtischler kommt und nimmt Maß.
Der Verstorbene liegt aufgebahrt auf einem Brett zwischen zwei Stühlen. Es ist das Totenbrett, das später bemalt und beschriftet und zur Erinnerung irgenwo in die Erde gesteckt wird. Särge gibt es noch nicht so lange. Früher ließ man den Leichnam in einem Leinensack auf diesem Brett in die Grube gleiten. So konnte er rasch verwesen, denn der Friedhof war klein. Jeder wollte gern möglichst nah bei der Kirche liegen, und man brauchte den Platz bald für den Nächsten. Nach ein paar Jahren übertrug man die Überreste in ein Beinhaus, den Karner. Dort häuften sich, durch die Gitter sichtbar, die Gebeine. Man konnte dort Kerzen aufstecken und der Verstorbenen gedenken.
Aus dem Verstorbenen auf seinem Brett hat man eine „schöne Leich“ gemacht, das ist wichtig. Neben ihm steht ein kleiner Tisch mit der Sterbekerze, einem Andachtsbild, Blumen und einem Weihwasserschälchen mit einem Holunderzweig zum Besprengen des Toten. Das Tischtuch wurde von kleinen Mädchen in der Schule mit Sterbesprüchen bestickt. Jeder der Eintretenden grüßt den Toten mit einem Weihwasserspritzer. Die Kinder legen ihm ohne Scheu ein Heiligenbildchen auf die Brust. Für sie hat der Tod nichts Schreckliches. Die Haustür steht offen. Es ist ein leises Kommen und Gehen. Im Haus ruht die Arbeit. Jemand sitzt neben der Bahre und betet ununterbrochen. Am Abend versammeln sich im Sterbehaus Freunde, Verwandte und Nachbarn zum Gebet, zum „Leichhüten“, wie man es nennt. Der Verstorbene darf bis zu seinem Begräbnis nicht allein gelassen werden. Der Totenbrauch ist vom Sterbebett bis zum Grab vollkommen trasparent. Es gibt hier keine Gelgenheit, irgendwie zu mogeln. Noch einmal wird der Tote von jedem einzeln begrüßt. Dann zündet der Vorbeter die Kerzen an, und man betet drei Rosenkränze und eine Litanei. Das dauert anderthalb Stunden. Danach gibt es Kaffee und Kuchen. Während der Mahlzeit ziehen die Frauen und Mädchen ihre handgeschriebenen Liederbücher hervor und fangen an, mehrstimmig zu singen. Es sind Lieder mit vielen Strophen, gemacht, um die langen nächtlichen Stunden der Totenwache zu füllen. Der Tod tritt auf in seiner allgegenwärtigen Grausamkeit, er pflückt Menschen ab wie Blumen – nicht mehr als „Schnitter“ und „grimmer Tod“ oder „erschrecklich Mann“, wie in der Blütezeit des Volksliedes, aber immer noch als dessen Nachfolger deutlich erkennbar. Nur mit dem Unterschied, dass die vierhundert Jahre später geschriebenen Verse des Dorfpoeten vom Niedergang der Volkspoesie gezeichnet sind. In vielen Liedern beklagt der Tote selbst seinen Abschied. Ich las in den siebziger Jahren slowenische Texte, in denen die Verstorbenen sich bei ihren Verwandten für ihren fahrlässig herbeigeführten Tod entschuldigten. Ein junger Motorradfahrer bat seine Eltern für seine ungestüme Fahrweise um Verzeihung.
In den folgenden Versen handelt es sich um den Abschiedsschmerz eines niederösterreichischen Bauern:Jetzt muß ich aus mein`Haus.
Meine Hauswirtschaft ist aus.
muß ziehn ein ander Straßen.
Mein Jesus bleib bei mir!
Maria, reis`mit mir!
Jetzt lieg ich da im Bett,
mein Zung kein Wort mehr redt,
mein Augen nichts mehr sehen,
mein Ohren nichts mehr hören.
Mein Jesus, bleib bei mir!
Maria, reis`mit mir!
Mein Leib ist gelb und weiß,
treibt aus den Totenschweiß,
im Rücken tut`s schon krachen,
der Tod tut all das machen.
Mein Jesus, bleib bei mir!
Maria, reis`mit mir!
Um Mitternacht wiederholt sich das Ritual von beten, singen und essen. Aber die Stimmung hat sich gelockert. Man fängt an, sich Geschichten über den Toten zu erzählen. Dabei sind sich die Totenwächter seiner Anwesenheit bewußt. Er ist immer noch einer von ihnen. Möglich, dass er noch zuhört. Die Lieder werden jetzt lebhafter, man spricht Balladen mit verteilten Rollen, wie die vom Tod und vom Jüngling und vom Kampf zwischen Engel und Teufel um seine Seele. Die Stimmung hebt sich. Kartenspiel und Gruselgeschichten wechseln ab mit Gebet.
So etwas hat später Anstoß erregt. Und doch: Waren die Bräuche des Volkes nicht grade dann am schönsten, wenn sie ein lachendes und ein weinendes Auge zeigten? Und auch am ehrlichsten? Denn wir sind nun einmal so, dass wir gleichzeitig lachen und weinen. Die Aufklärer hatten für all das kein Verständnis. Grade die Doppelgesichtigkeit war für sie ein Ärgernis. Die Regierungen erließen Ende des 18. Jh. Gesetze im Namen der Pietät, allerdings meist vergeblich.
Die Totenwache wiederholte sich noch ein bis zwei Nächte bis zum Begräbnis. Niemand empfand so etwas wie Furcht vor dem Toten. Er wurde bis zuletzt als Person geachtet. Nur eins durfte nicht geschehen: dass er wieder zurückkam. Wer tot war, sollte tot und wer lebte, lebendig bleiben. Diese Ordnung mußte man stets im Auge behalten. „Leichhüten“ war Ehrung und Bannung zugleich. Darum band man an vielen Orten dem Toten die Füße zusammen, und zwar zu allen Zeiten und überall in der Welt. Ich habe gehört, wie die Indianer am Rio Guaporé in Liedern ihren Verstorbenen beschworen, nicht wiederzukommen. Und die verschnürten Gerippe in den Hockergräbern der Bronzezeit offenbaren denselben Sinn. Nicht den Toten fürchtete man, sondern den Toten als Wiedergänger.
Was könnte das bedeuten?
Ich denke, man kann zweierlei darunter verstehen: Einmal, dass der Tote nicht losgelassen wird. Wenn ein Mensch gestorben ist, tritt eine neue Ordnung in Kraft. Das Universum richtet sich ohne ihn ein. Die Menschen und Dinge rücken anders zusammen als vorher. Trauernde, die diese Ordnung nicht respektieren, die ihn um jeden Preis festhalten und so tun wollen als lebte er noch, die seine Geburtstage feiern und in seinem Zimmer kein Möbelstück verrücken, machen den Toten zum Wiedergänger. Ihr eigenes Leben stagniert, sie verharren in einer Art trotziger Trauer. Zum andern bedeutet es grade das Umgekehrte: Der Tod wird aus dem Leben verdrängt, der Verstorbene schleunigst vergessen. Der kehrt dann zurück, und zwar, was noch schlimmer ist, unerkannt, unter anderer Gestalt.
Wer den Tod abweist, ist grausam gegen sich selbst, schrieb Bischof Keppler zu Beginn dieses Jahrhunderts und: Die Todesflucht steigert die Todesfurcht. Ein heutiger Psychotherapeut formuliert es präziser: Die Verdrängung des Todes bewirkt Schlaflosigkeit, Colitis, Migräne und Angstzustände. Dies also sind die Gestalten, in denen der Tote zurückkommt, als „Nachzehrer“, wie es im Volksmund heißt.
Daher die langen Nächte, der ausgedehnte Abschied von den Verstorbenen. Alle Abschiedsbräuche sind Aufhalter, Sand im Getriebe der routinierten Tagesabläufe. Die geopferte Zeit bekommen wir wieder zurück als Gelassenheit, und zwar dann, wenn wir sie selber nötig haben.
Der Beerdigungsmorgen beginnt mit einem ausgedehnten Totenfrühstück. Das Essen spielt von jeher im Zusammenhang mit dem Tod eine wichtige Rolle. Nirgends kommt der Kontrast zwischen Leben und Tod schärfer zum Ausdruck als beim Essen. Nirgends wird sich der Lebende klarer bewußt, dass er lebt. Aber das Frühstück ist nur das Vorspiel für das große Totenmahl, das nach der Beerdigung gehalten wird. Man hat für den Toten gebetet und gesungen. Schließlich, beim Totenmahl, wird man für ihn essen.
Aber noch liegt er offen in seinem Sarg. Jeder, der will, legt ihm jetzt einen Gegenstand an die Seite, der ihm zu Lebzeiten teuer war: das Sterbekreuz, das Gebetbuch, Heiligenbildchen, den Helm und die Orden vom letzten Krieg, die Tabakspfeife, das Taschenmesser.
Ein Neunzehnjähriger erinnert sich, dass sein Großvater Gummistiefel und Rgenschirm mit in den Sarg bekam für die lange Reise. Und wieder erinnern wir uns an die kostbaren Waffen und Geräte, die wir in vorgeschichtlichen Grabhügeln finden. Im letzten Jahrhundert gab es gelegentlich noch den Brauch, dem Toten ein Geldstück zwischen die Zähne zu schieben, die alte Charonsmünze, die auch bei den christlichen Germanen bekannt war. Ihre Grabmünzen trugen die Aufschrift „Tributum Petri“, Eintrittsgeld für den Himmel.
Endlich ist der Augenblick da, in dem der Tote das Haus verläßt. Der Vorbeter gibt ihm das letzte Wort: „Lebe wohl, o Welt“, läßt er ihn sagen, „ich habe dich verlassen. Lebe wohl, meine Wohnung! Lebt wohl, ihr, meine Lieben! Behüt und segne euch Gott tausend und tausenmal!“ und er fügt hinzu: „Gelobt sei Jesus Christ – daher komm ich nimmer.“
In der Aufklärungszeit wurde die Leichenhalle erfunden, die dieser Art von Abschied ein Ende machte. Das Begraben von Scheintoten sollte damit verhindert werden, obgleich man annehmen sollte, dass es zu diesem Zweck nichts Besseres gab als die häusliche Totenwache. Die Toten lagen nun in einer Reihe nebeneinander, eine Hand jeweils mit einem Draht verbunden, an dessen anderem Ende ein Glöckchen den Wärter herbeiholen sollte, falls der Tote erwachte. Die Hinterbliebenen versuchten noch eine Zeitlang, das Abschiedsgespräch in die Leichenhalle zu verlegen. Aber es war nicht mehr dasselbe. Die Atmosphäre war kühl, und die Dramatik des Abschieds vom eigenen Haus ließ sich hier nicht wiederholen.
Daraufhin gab es ein erstes Verstummen. Denn gerade anläßlich der Totenwache, in ihrem vielfachen Reden in Bezug auf den Toten, zeigten die Angehörigen, dass er noch einer von ihnen war. Man redete im Gebet fürbittend für den Toten, man redete über ihn und mit ihm, und man redete stellvertretend als der Tote.
Heute spricht man nur noch über den Toten oder man läßt über ihn sprechen durch einen Redner, der sich vorher die Daten seiner Biographie geben ließ. Die Leichenrede, wie wir sie heute kennen, gründet auf keinem alten Brauch.
Ins Paradies mögen Engel dich geleiten, bei deiner Ankunft dich Märtyrer empfangen, sagt der Priester in den alten Gebeten. Mit himmlischem Tau erquicke Gott deine Seele – dabei besprengt er den Sarg mit geweihtem Wasser.
Mit himmlischem Wohlgeruch erfreue Gott deine Seele, fährt er fort, während er dreimal den Sarg beweihräuchert. Staub bist du und zu Staub kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken am Jüngsten Tag. Hier bedeckt der Priester den Sarg mit drei Schaufeln Erde.
Totenzeit ist Armenzeit. Im Trauerhaus durfte kein Almosen verweigert werden. Arme saßen beim Totenmahl und bekamen, was übrig blieb. Arme waren es, die am Todestag reicher Adeliger große Spenden erhielten. Am Grab wurde Brot, Fleisch und Käse in großen Mengen gereicht. Schon der hl. Chrysostomus spricht von Almosen, die den Verstorbenen gewidmet waren. Zwischen Armen und Armen Seelen besteht eine mystische Beziehung. Aus dem griechischen Wort eleimosýne – zu deutsch Almosen – wurde im spätantiken Latein éelymosena, das man im Althochdeutschen mit sellosunga übersetzte: Seelen-Lösung, Erlösung der Seelen.
Die Arme Seele wirkt als Fürbitterin wohltätig auf den Spender zurück. Besonders an den alten Totengedenktagen kommen die Toten wieder, nicht als Individuen, als Wiedergänger, sondern als glückbringende Scharen. Ihre großen Tage sind St. Michael, St. Martin, Allerheiligen, Allerseelen und Epiphanie. Die Martins- und Dreikönigssinger, die Perchten und wilden Faschingsgestalten waren ursprünglich Arme, die von Tür zu Tür zogen und ihre Körbe mit Lebensmitteln füllen ließen. Die Toten kehren als die Armen zurück. Man darf sie nicht abweisen, denn sie essen an Stelle der Toten. Sie sind Lebensspender und Herren der Fruchtbarkeit. Die Brotlaibe, die an solchen Tagen verteilt werden, sind „Gebildbrote“, das heißt, sie haben für diesen Tag eine bestimmte Form. Im schwäbischen Oberland heißen sie „Seelen“, man kann sie samstags in der Stuttgarter Markthalle kaufen.
Der Bettler an der Kirchentür sitzt dort, wo man früher die Arme Seele vermutete, die auf eine Weihwasserspende wartete. Saßen sie dicht nebeneinander? Waren sie ein und dieselbe Person? Der Volksglaube stellt solche Fragen nicht.
In der Zeit der Aufklärung, deren Sinn immer auf das Praktische ging, wurde in all diese Bräuche energisch eingegriffen. Damit verblaßten auch die Vorstellungen, die diesen Bräuchen zugrunde lagen. Aller Aufwand, der für die Toten getrieben wurde, sollte jetzt nur noch für die Lebenden nützlich sein. Man brach die Karner ab, strich die Zahl der Feste und Messen für die Verstorbenen drastisch zusammen, beschränkte durch Erlasse die Zahl der Gänge beim Totenmahl und kontrollierte die Schlichtheit der Trauerkleidung und die Länge der Trauerzeit. Die Armen verloren ihren mystischen Status und damit auch ihre Würde. Ein Kreislauf, in dem der Tod, was er verschlungen hatte, reichlich zurückgab, mußte dem aufgeklärten Denken als Wahn erscheinen.
Hier beginnt der Prozeß der Rationalisierung im Umgang mit dem Tod, der im modernen Massengrab seinen Abschluß findet. „Summa sapientia mortis memoria“ lautet ein altes Sprichwort. Höchste Weisheit ist es, den Tod zu bedenken. Aber was bedeutet Weisheit in einer Gesellschaft, in der man sich immer nur „guten Erfolg“ wünscht? Erfolg ist in Freund Heins stummer Sprache ein Fremdwort. Was er für seine Freundschaft verlangt, ist Zeit. Und er pflegt, trotz der Hast unserer Tage, mit seinem Preis nicht herunterzugehen.
Vortrag am 4. November 2001 in Stuttgart. Veröffentlicht in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Jg.30 (2000/2001), 290-304.