Predigt zum 17. Sonntag im Jahreskreis C (Lk 11, 1-13)
Es gibt kein Gebet, das bekannter und uns vertrauter ist als das Vaterunser – es ist ja das Grundgebet aller Christen, – Und doch: Obwohl es uns so selbstverständlich und altbekannt ist, ist es zugleich das außergewöhnlichste und kostbarste und stärkste Gebet, das wir haben. Warum? Weil Christus selbst uns dieses Gebet in den Mund und ans Herz legt. Es atmet ganz den Geist des Herrn.
Im Lukasevangelium lesen wir, dass die Jünger Probleme mit dem Beten hatten. Daraufhin bringt Jesus ihnen – und damit auch uns – das Vaterunser bei (Lukas 11,1-4). Auch der Evangelist Matthäus überliefert das Vaterunser (mit kleinen Unterschieden zu Lukas: Matth 6, 7-15).
Nichts geht über das Vaterunser. – Das haben immer wieder gerade auch große Beter, Menschen, die eine besondere Gebetsgnade und -gabe haben, bestätigt.
Zum Beispiel der heilige Johannes vom Kreuz, der selbst Mystiker war, den Weg der mystischen, übernatürlichen Vereinigung mit Gott kannte, der sagt folgendes: „Als die Jünger Jesus baten, er möge sie das Beten lehren, hätte er ihnen sicher alles dazu Notwendige gesagt. Er lehrte sie aber nur die sieben Bitten des Vaterunsers: In ihnen sind alle unsere geistlichen und zeitlichen Bedürfnisse eingeschlossen“.
Ein anderes Zeugnis stammt von Alfred Delp:, dem Jesuitenpater, der im Widerstand gegen das Dritte Reich war und 1945 hingerichtet wurde.
In seinen Aufzeichnungen aus der Todeszelle kann man lesen: Wenn es aufs Letzte zugeht und wirklich hart auf hart kommt, dann hilft einem alle gelehrte Theologie und alle Spiritualität nichts mehr. Dann bleibt nur noch das Vaterunser und bewährt sich als die eiserne Ration des Glaubens.
Und noch ein Beispiel möchte ich nennen. Es stammt von der russischen Schriftstellerin Tatjana Goritschewa. Sie hatte, noch während der Jahre des Sowjetregimes, ein übernatürliches Bekehrungserlebnis. Sie, die bis dahin überzeugte Atheistin war, findet in einem Yoga-Buch unter anderen Texten das Vaterunser – das ihr ganz unbekannt war – spricht es mehrmals und wird mit einemmal im Innersten ergriffen und verwandelt. Sie schreibt darüber Folgendes: „Man muß wissen, dass ich bis zu diesem Augenblick noch nie ein Gebet gesprochen hatte und auch kein einziges Gebet kannte. Aber da wurde in einem Yoga-Buch ein christliches Gebet, und zwar das „Vaterunser“ als Übung vorgeschlagen. Ausgerechnet das Gebet, das unser Herr selbst betete. Ich begann es als Mantra vor mich hinzusagen, ausdruckslos und automatisch. Ich sprach es so etwa sechsmal, und dann wurde ich plötzlich vollständig umgekrempelt. Ich begriff – nicht etwa mit meinem lächerlichen Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen, dass Er existiert. Er, der lebendige, persönliche Gott, der mich und alle Kreatur liebt, der die Welt geschaffen hat. In diesem Augenblick veränderte sich alles in mir. Der alte Mensch starb. Mein eigentliches Leben begann“.
Das Gebet des Herrn: es ist kostbar, es ist – mit einem schönen Wort Papst Benedikts XVI. – „das ABC des Betens“. Wir tun gut daran, es zu pflegen, ja es lieb zu gewinnen – und immer mehr auszuloten und auszuschöpfen. Wir könnten uns dabei von der Frage leiten lassen: Welche Bitte ist im besonderen meine Bitte, welche Bitte ist mir die Wichtigste und ist mir aus dem Herzen gesprochen?
Sieben Bitten umfaßt das Vaterunser: Zuerst die drei „Du-Bitten“, in denen es um Gott und sein Reich geht, und dann die vier „Wir-Bitten“, in denen unsere leiblichen und geistlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
So bildet das Vaterunser eine Kreuzform. Es hat die Vertikale, den Längsbalken, der uns nach oben ausrichtet und die Horizontale, den Querbalken: unsere irdische Existenz in der Verwiesenheit auf unsere Mitmenschen. Diese Kreuzförmigkeit – Gottesachse und Weltachse – ist wesentliches Merkmal des christlichen Glaubens. Wir finden diese Struktur auch bei den Zehn Geboten oder beim Doppelgebot der Liebe. Immer aber gilt: Der Längsbalken ist der tragende Balken. Ohne die Verbindung mit Gott hängt die Verbindung zu den Mitmenschen in der Luft und trägt nicht.
Und so sehen wir, dass eine Gesellschaft, die zuerst in großen Teilen den Glauben über Bord geworfen, die Verbindung zu Gott gekappt hat, in der Folge auch menschlich-moralisch und jetzt auch wirtschaftlich-materiell Bankrott macht…
Zurück zur Ausgangsfrage: Welche Vaterunserbitte ist im besonderen die meine?
Meiner Erfahrung nach wechselt das im Laufe der Jahre.
Da ist die Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute. Mit dem täglichen Brot ist alles gemeint, was wir zum Leben brauchen.
Jesus setzt also voraus, dass wir alles, was wir zum Leben brauchen, von Gott bekommen. Jeden Tag leben wir von der Vatergüte Gottes, der uns alles Nötige zukommen lässt. Wie er für die Vögel des Himmels sorgt und für die Lilien auf dem Feld, so auch für uns, seine Kinder (Mt 6,25-34). Wer meint, er habe im Grunde alles sich selbst und seiner Arbeit zu verdanken, der wird beim Beten des Vaterunsers eines Besseren belehrt…
In der theologischen Tradition wird unter dem täglichen Brot oft auch das Eucharistische Brot verstanden. Dann müsste man die Brotbitte so verstehen: „Gib, dass es uns niemals am Brot des Lebens fehlt“. Tatsächlich bitten die Menschen Jesus so im Johannesevangelium, als er ihnen das Geheimnis der Eucharistie verkündet: „Herr, gib uns immer dieses Brot!“(Joh 6,34).
Möglicherweise erkennen wir gerade heute, da die Zukunft der Kirche in unseren Breiten so gefährdet ist, die Dringlichkeit der Bitte um das „wahre Brot vom Himmel, das der Welt das Leben gibt“ (Joh 6, 33).
Vergib uns unsere Schuld. – Wie heilsam, dass wir bei jedem Vaterunser daran erinnert werden, dass wir sündige Menschen sind. Das verdrängen wir doch so gern. Wörtlich heißt es: „Erlass uns unsere Schulden“. – Schuld ist das, was wir schuldig geblieben sind; die Liebe, die wir Gott und den Menschen schuldig geblieben sind. Unsere eigentliche Schuld liegt darin, dass wir so weit hinter den Erwartungen Gottes zurückbleiben. Wer das eingesehen hat, tut sich leichter, seinerseits denen zu vergeben, die ihm manches schuldig geblieben sind.
Führe uns nicht in Versuchung. Was hat uns diese Bitte zu sagen? Das Evangelium berichtet, wie Jesus selbst zu Beginn seines öffentlichen Wirkens versucht wurde (Matth 4,1-11). Der Versucher (Satan) will ihn von seiner Mission abbringen und Gott, seinem Vater, entfremden. Veruchung meint in der Bibel die tiefste und eigentliche Gefährdung des Menschen: die Abkehr von Gott und seinem Willen. „Führe uns nicht in Versuchung“ heißt somit: Bewahre uns vor dem Glaubensabfall; lass uns niemals von dir getrennt werden! Lass uns nicht irre werden an unserer Berufung!
Sondern erlöse uns von dem Bösen: Befreie die ganze Welt von den versucherischen, gottfeindlichen Mächten.
Dein Wille geschehe. Das ist in einem Wort zusammengefaßt das Lebensprogramm des Glaubens. Gottes Willen, Gottes Verfügung annehmen; die Situation, in die er mich gestellt hat, in gläubigem Gehorsam. So wie es Jesus selbst in seiner schwersten Stunde am Ölberg getan hat: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Matth 26,39-44). Aus dieser Hingabe des Sohnes hat der Vater die Erlösung für viele gewirkt. – Wenn wir Gottes Willen annehmen, auch wenn wir ihn nicht verstehen, wird es zum Heil für uns und für andere werden.
Dein Reich komme: Welchen Horizont öffnet diese Bitte! Das Reich Gottes ist unsere Hoffnung. Da geht es nicht nur um mein eigenes Seelenheil, sondern die Erlösung der ganzen Welt. – Die neue Welt Gottes – die erwarten wir. „Das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“ (Präfation vom Christkönigssonntag).
Nun gehört zum Geheimnis des Reiches Gottes, dass es nicht nur am Ende der Zeit kommt, sondern heute schon verborgen da ist, wo Menschen aus dem Glauben leben. „Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch“, sagt Jesus (Lk 17,21). Wir erkennen es nur nicht, weil es unscheinbar ist wie ein Senfkorn (Mt 13,33). Wo immer aber „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ herrschen, da ist die Herrschaft Gottes schon angebrochen (Röm 14,17). Auch in jeder Eucharistiefeier dürfen wir schon einen Vorgeschmack auf das Mahl im Reich Gottes erleben und die Gegenwart des Herrn erfahren – wie die Jünger nach der Auferstehung Jesu (Mt 26,29; Lk 24,13-35).
„Dein Reich komme“ bedeutet also auch: Lass uns dein Reich erkennen in unserem Leben und im Leben der Kirche und lass dieses Reich wachsen und aufblühen.
Geheiligt werde dein Name. Das ist die erste Bitte im Vaterunser. Für Jesus scheint es sich hier um das Erstwichtige zu handeln. Gottes Name soll groß werden in der Welt, soll verherrlicht werden – auch durch uns. Gottes Name soll uns heilig sein. Wir sollen Gott unserem Vater, die Ehre geben, die ihm gebührt. Durch unser Beten, durch unseren Gottesdienst. Und durch unser Leben. Wir sollen so leben, dass wir dem heiligen Gott gefallen und seinem Namen Ehre machen.
Über allen Bitten steht die Anrede: Vater. – Unser Vater im Himmel!
Das ist die Seele des ganzen Gebets. Gott ist kein unpersönliches Schicksal, keine anonyme Macht. Gott ist derjenige, der jeden von uns kennt – besser, als wir uns selbst kennen; der uns sieht und hört; der uns liebt und aus Liebe ins Dasein gerufen hat. Wir verdanken uns nicht dem Zufall, sondern der Liebe Gottes – und das in jedem Augenblick unserer Existenz.
In sicherem Vertrauen dürfen wir darum zu Gott aufschauen und ihm unsere Bitten vortragen. Wir sind ja seine Kinder (1 Joh 3,1).
In der frühen Christenheit war es üblich, das Vaterunser dreimal am Tag zu beten, morgens, mittags und abends. Der ganze Tag sollte vom Gebet des Herrn umfangen sein. Das war eine gute Idee. – Eine, die es wert wäre, heute neu aufgegriffen zu werden.. Wir wissen, dass es heute viele gibt, die „Christen“ heißen, und trotzdem das Vaterunser nur noch selten, vielleicht gar nie mehr beten. – Das ist schlimm. Wie wäre es, wenn wir daraus einen Auftrag für uns ableiten würden? Dass wir das Vaterunser nicht nur für uns persönlich, sondern auch stellvertretend für andere beten? Nicht umsonst ist dieses Gebet nicht in der Einzahl, sondern in der Mehrzahl formuliert, nicht in der Ich-Form, sondern in der Wir-Form.
Es reiht uns ein in die große Gemeinschaft aller Glaubenden, aller Kinder Gottes. So können wir es auch bewußt für andere beten. Wir können für die anderen vor Gott hintreten und dazu beitragen, dass Gottes Name geheiligt wird in unserer Welt.
Amen